Aus der Welt
nichts mehr und weigerte sich schließlich sogar, ihn zu berühren. Sie war felsenfest davon überzeugt, das Kind zu verletzen, sobald sie es hochnehmen würde. Die Situation verschlimmerte sich zusehends, bis sie vier Tage hintereinan der kein Auge zutat. Dann fand ich sie eines Abends in der Küche, bäuchlings auf dem Boden liegend, während sie mit dem Kopf gegen den Herd schlug. Als der Krankenwagen kam, untersuchten die Sanitäter sie nur kurz und brachten sie anschließend in die psychiatrische Abteilung des Massachusetts General Hospital. Wo sie die nächsten vier Monate blieb. Was auf den ersten Blick aussah wie ein schlimmer Fall von postnataler Depression, wurde schließlich als gravierende bipolare affektive Störung diagnostiziert.«
Danach war ihre seelische Verfassung bestenfalls durchwachsen. Sie hatte mindestens einen Zusammenbruch pro Jahr, gefolgt von einer relativ ruhigen Phase. Aber sie brachte nie mehr genügend kreative Energie auf, um eine weitere Geschichte zu schreiben, und die vielen Medikamente blieben auch nicht ohne Folgen für ihre körperliche Verfassung und ihr Aussehen.
»Wenn es so schlimm war«, fragte ich, »warum hast du dann nicht die Reißleine gezogen und bist gegangen?«
»Ich habe es vor etwa zehn Jahren versucht. Ich hatte eine andere kennengelernt, Anne, eine Violinistin des Boston Symphony Orchestra. Es wurde schnell ernst zwischen uns. Doch trotz ihrer manischen Momente merkt es Polly sofort, wenn man sie belügt. Als ich mehrere Nachmittage in der Woche nicht an der Uni war, beauftragte sie einen Detektiv … Der fotografierte, wie ich in der Wohnung der Violinistin in Back Bay ein und aus ging und wir beide in einem Restaurant in der Nähe Händchen hielten. Meine Güte, ist das alles banal!«
»Du und die Violinistin – habt ihr euch geliebt?«
»Eigentlich schon. Aber dann kam ich eines Abends nach Hause und sah die Aufnahmen des Detektivs überall im Wohnzimmer herumliegen. Polly lag in der Badewanne und hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Sie war fast tot.«
Die Sanitäter mussten ihr über fünf Blutkonserven geben, um ihren Zustand zu stabilisieren.
Danach verbrachte sie weitere drei Monate in der psychiatrischen Abteilung.
»Unser Sohn Charlie – der damals zehn war – sagte mir, ich dürfte auf keinen Fall gehen. Er kam nämlich nachdem ich Polly gefunden hatte, von der Schule zurück. Ich versuchte, ihn daran zu hindern, ins Bad zu gehen, aber er stürmte einfach hinein und sah seine Mutter nackt im blutigen Wasser treiben. Danach …«
Danach zog sich Charlie völlig in sich zurück, wurde verschlossen und verstockt. Er wechselte mehrmals die Schule. In der Pubertät fing er an, Drogen zu nehmen, und flog erneut, weil er nach einem schlechten Trip sein Bett anzünden wollte. Sie versuchten es mit einer fortschrittlicheren Schule, danach mit einer strengen Militärakademie, sie versuchten es sogar mit Hausunterricht (er zerstörte sein Zimmer). Am Vorabend seines siebzehnten Geburtstags lief der Sohn ziemlich intelligenter Eltern schließlich von zu Hause weg. Er blieb zwei Jahre lang verschollen – in denen David über eine Viertelmillion Dollar (»mein gesamtes Erbe väterlicherseits«) ausgab, um ihn wiederzufinden. Schließlich entdeckte man ihn in einem Obdachlosenwohnheim unweit des Pioneer Square in Seattle.
»Die gute Nachricht lautete, dass er nicht HIV -positiv und nie auf den Strich gegangen war. Die schlechte Nachricht lautete, dass er schizophren war.«
Seit drei Jahren lebte er in einer betreuten Einrichtung bei Worcester. »Es ist deprimierend, aber wenigstens kann er sich dort nicht selbst verletzen.«
Inzwischen war es seiner Mutter irgendwie gelungen, in ein einigermaßen normales Leben zurückzufinden. Es gelang ihr sogar, nach einer fünfzehnjährigen Schaffenspause in einem kleinen Universitätsverlag einen dünnen Band mit Kurzgeschichten zu veröffentlichen.
»Es wurden wahrscheinlich kaum fünfhundert Exemplare verkauft – aber für sie war es ein Riesenerfolg. Das Tollste daran war, dass sich Polly wieder zu fangen, aus ihr wieder die intelligente, schöne Frau zu werden schien, die ich einmal geheiratet hatte. Aber auch das war nur vorübergehend, bis ihre Wahnvorstellungen umso heftiger zurückkehrten.«
Die ständigen Probleme mit Frau und Sohn blieben auch für David nicht folgenlos, der Mühe hatte, sich auf seine eigenen Bücher zu konzentrieren. Der erste Roman war aus ihm herausgeströmt wie ein Geysir.
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