Aus Licht gewoben
mir die Tränen in die Augen zu treiben.
Lady Aphra stand auf. Ihre Knie knackten vor Anstrengung, und sie strich sich das Haar aus der Stirn.
»Der Fluch trifft nur die Söhne der Familie, wahrscheinlich mit dem Ziel, die Linie irgendwann auszulöschen«, sagte sie. »Aber den Rest der Geschichte muss er dir selbst erzählen.«
»Kann ich denn wirklich gar nichts für ihn tun?«, fragte ich verzweifelt. »Nicht das Geringste?«
Lady Aphra blieb im Türrahmen stehen. »Schenke ihm deine Liebe«, antwortete sie. »Für jemanden, der sich sein ganzes Leben lang selbst gehasst hat und in dem Glauben aufgewachsen ist, dass die Welt nur Schmerz für ihn bereithält, gibt es kein größeres Geschenk. Verstehst du, was ich meine?«
Wortlos nickte ich. Auch als ich ihn bis zum Kinn zudeckte, ihm das Haar aus dem Gesicht strich und das Feuer wieder anmachte, sagte ich nichts. Lady Aphras Worte gingen mir durch den Kopf, doch ich schob sie von mir und konzentrierte mich nur noch auf das Zusammenspiel von Licht und Schatten auf Norths Gesicht.
Die eine Hälfte von Norths Geschichte kannte ich nun, doch ich wusste, dass ich die andere Hälfte nicht so leicht erfahren würde. Das Geheimnis seines Schmerzes war tiefer vergraben, als ich es mir je hätte vorstellen können. Wer war Wayland North, fragte ich mich, und wie viele Schichten würde ich noch abtragen müssen, bis ich ihn endlich fand?
Als schließlich eines der älteren Mädchen das Abendessen brachte, war ich vollkommen ausgehungert. Es waren nur belegte Brote und Milch, aber ich verputzte alles bis auf den letzten Krümel. Nachdem ich alles aufgegessen hatte, trank ich Norths Milch ebenfalls. Überraschenderweise war sie noch kalt, obwohl sie am Feuer gestanden hatte.
Ich überlegte, ob ich seine zerfetzten Umhänge ausbessern sollte, doch die Geschehnisse des Tages hatten meinen Wunsch, den mehrfarbigen fertigzustellen, wieder neu entfacht. North hatte Besseres verdient als diese hässlichen, abgetragenen Umhänge. Ich träumte von einem Umhang, der sein Leben so darstellte, wie ich es vor mir sah, ohne die Löcher und Risse darin, die ihm ununterbrochen zu schaffen machten.
Während ich am Feuer saß und webte, tanzten flackernde Schatten über meinen Webrahmen. Mein Blick wanderte zu North hinüber, und ich beobachtete, wie sich seine Brust stetig hob und senkte. Es war aussichtslos. Ich konnte mich einfach nicht auf die blauen Fäden in meiner Hand konzentrieren und achtete kaum auf die einzelnen Regentropfen, die ich um den Drachen anordnete. Als ich meine Finger ansah, schien das blaue Garn darin förmlich zu leuchten.
Ich ließ es los und schob meinen Stuhl zurück. Vor meinen Augen verschwamm der ganze Umhang zu einem Gebilde aus Licht und Farben.
Ich fiel auf die Knie, ergriff die Spule mit dem roten Garn und begann ohne nachzudenken, es mit dem Blau zu verknüpfen. Als die Flammen des Drachens aufloderten, tat das Feuer im Kamin es ihm gleich. Es knackte und zischte und leuchtete einen Moment lang hell auf. North begann im Schlaf etwas zu murmeln.
Der Faden fiel mir aus den steifen Fingern. Panisch sog ich die kühle Luft des Zimmers ein, doch die Hitze, die sich in mir gebildet hatte, war zu stark. Ich konnte nichts anderes tun, als zitternd und unter Tränen zu meinem Lager zu kriechen und mich in meine Decke zu wickeln.
Nach kurzer Zeit erwachte ich schon wieder, den Verstand von Schlaf, aber auch noch von etwas anderem benebelt. Das Zimmer war dunkler als zuvor. Das Feuer war heruntergebrannt und spendete nur noch wenig Licht und Wärme. Meine Hände und Füße waren kalt und steif. Ich wollte einen Holzscheit nehmen und das Feuer erneut anfachen, doch er fiel mir durch die leblosen Finger. Danach zog ich einfach nur die Beine an und versuchte, meine Glieder wieder etwas aufzuwärmen.
Kalt , dachte ich. Kalt, kalt, kalt .
Danach war die Welt angefüllt mit Schmerzen und gequälten Schreien. Ich hatte den Holzscheit scheinbar in den Kamin gestoßen, denn als ich das nächste Mal erwachte, rief Lady Aphra verzweifelt meinen Namen und versuchte, mich aus dem Feuer zu ziehen, das ich entfacht hatte.
» Sydelle! «, rief sie. »Sydelle, wach auf!«
Ich versuchte, die Augen zu öffnen, um ihr zu sagen, was für furchtbare Schmerzen ich hatte, aber alles was ich herausbrachte war: »Kalt, so schrecklich kalt«, denn ich war nicht im Stande etwas anderes zu denken oder zu fühlen. Hunderte, Tausende, Millionen von Nadeln
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