Aus Liebe zum Wahnsinn
lassen: Hannibal.
Ich schaute meinen Eltern gerade ins Gesicht.
»Wir müssen das machen«, sagte ich schnell. »Wir müssen nach Florenz. Jetzt.«
»Ihr müsst? Jetzt? Und warum?«
Wenn ich es nicht gleich täte, würde er übernehmen. Ich hatte keine Wahl. Also brüllte ich einfach in das Getöse hinein, plärrte meinen eigenen Seelenlärm nieder: » DAS IST UNSERE LETZTE CHANCE !«
Plötzlich war es ganz still, meine Eltern und ich entsetzt ob meines Tons und der Lautstärke, Hannibal zufrieden auf dem Rückweg in sein Heerlager.
»Ja, stimmt doch«, grummelte ich. »Also, bevor Gianna in den Kindergarten kommt.«
Es war wie immer mit Hannibal: Er kommt, mäht Bedenken nieder und zieht wieder ab. Er, der Feldherr der Entschiedenheit. Immer dann, wenn etwas zu kippen droht – zu gefährlich, zu gewagt, »das geht doch nicht!« – immer dann kommt er und ballert seinen kleinen Zauberspruch: »Das ist eure letzte Chance.« Ich liebe ihn. Ich hasse ihn.
Hannibal verfolgt mich seit Ende der sechsten Schulklasse. Ich bin in Bayern aufs Gymnasium gegangen, das heißt: Ich konnte mal fast fließend Latein. Auf dem Weg dorthin gab es gute Lehrer und solche, die so waren wie meine Noten. Und es gab Frau Steinreiter, die war noch schlimmer. (Spaßeshalber rechnete Frau Steinreiter bei der Benotung über die Sechs hinaus. Da habe ich ein paar Achter kassiert, einmal sogar einen Zehner. Toller Spaß.)
Also, sechste Klasse, Steinreiter, letzte Note, letzte Chance, doch noch auf eine Vier im Zeugnis zu kommen. Nach Titus Livius und Polybius von Megalopolis hat sich nun auch noch Frau Steinreiter aus Niederbayern eine Rede Hannibals an seine Soldaten ausgedacht, unsere Schulaufgabe: Es war um Tapferkeit gegangen, mitten in den Alpen, darum, dass in der Ferne bereits Italien zu sehen sei und natürlich um die »mulieres miserae«, die beklagenswerten Frauen, die Hannibal und seine Mannen allein in Karthago zurückgelassen hatten.
Es lief großartig, ich kannte die Wörter, durchschaute die Konstruktionen. Und vor allem: Ich verstand Hannibal. Bereits deutlich vor Ende der Stunde gab ich ab. Tags drauf wurde meine Mutter in die Sprechstunde zitiert. Was war da los? Ein Latein-Elfer? Die letzte Chance – vertan? Hannibal, hilf!
Am Ende lag eine Zwei auf meiner Schulbank. Genau die Zwei, die ich brauchte. Ich strahlte. Die Lehrerin kochte.
»Das«, brüllte sie und hämmerte mit ihrem Finger auf meine Schulaufgabe, genau auf die
mulieres miserae
, die beklagenswerten Frauen, »geht so überhaupt nicht.« Darunter meine Übersetzung, dreifach rot unterringelt: »die elendigen Weiber«. Politisch nicht ganz korrekt, aber – Hannibal sei Dank – kein Fehler.
Und seit jenem Tag sind wir ein Team, ein richtig starkes Männer-Team.
Mama verstand mich ohnehin. Wir waren zu acht zu Hause. Alles Männer. Sechs Söhne, ein Vater, das Geschlecht der Mutter wurde uns nicht gesagt. Jeder von uns hieß »Susi«, neun Monate lang – meine fünf Brüder und ich. Jedes Mal, wenn meine Mutter – sie hat selbst sieben Brüder – ein Kind bekam, montierte mein Vater eine Fahne an unseren Balkon. Und alle in der Straße wussten: Rechts bedeutet Mädchen, links Junge. Sie war immer links. In unserer Küche hing, seit ich denken kann, ein Zeitungsartikel. Titel: »Ohne Töchter kriegen Mütter Depressionen«.
»Jaja«, sagten wir, »die Mama und sein Zeitungsartikel.« Die weibliche Form des Possessivpronomens lernten wir erst kurz vor der Hochschulreife. Erst mit der Geburt Giannas, des ersten Enkelkinds, des ersten weiblichen Wesens überhaupt in unserer Familie, wurde der Zeitungsartikel abgehängt.
Mulieres miserae. Hatte er, dieser Hannibal, das am Ende vielleicht nicht sogar so gemeint? Vielleicht war er einfach sauer? Es war kalt da oben, der Wind blies, der beschwerliche Abstieg aus den Alpen stand bevor. Dazu der Zoff mit den Römern. Im Hintergrund brüllten die Elefanten. Da kann man doch auch mal ausflippen und ein wenig schimpfen, oder?
Und ganz klar: Wenn es darum geht, ob jemand nach Italien aufbrechen soll oder nicht – wer, wenn nicht er, der Alpenbezwinger, CYL -Agent Hannibal, weiß, was da zu tun ist?
Zia Anna sagte,
alle dodici
gebe es Mittagessen, um zwölf, und zwar für alle. » DO - DI - CI .« Sie wiederholte es zweimal, mit viel Platz zwischen den Worten. Das verhagelte mir die Laune. Gleich fing Violas Tante wohl auch noch an, mit mir Englisch zu reden. Mein Italienisch ist nicht so mies,
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