Aus Liebe zum Wahnsinn
dachte ich mir.
Zweimal die Woche ging ich abends in einen Integrationskurs, bezahlt vom Staat: Italienisch für Ausländer. Dort saß ich zusammen mit einer polnischen Pflegerin, die ihre Tochter zu Hause bei der Mutter lassen musste, einer japanischen Floristenauszubildenden, die auf ihrem Europatrip hängengeblieben war, und einem ukrainischen Bauarbeiter, der sich auf keiner Anwesenheitsliste eintrug. Als ich eines Abends nach Hause kam, klebte ein Post-It auf der Tür: »porta« stand dort. Über dem Schlüsselloch: »serratura«. Ich hängte meine Jacke an den Haken: »gancio«. Über der Steckdose klebte »presa«, auf dem Fensterrahmen »telaio« und »buco« über einem kleinen Loch, das ein Nagel hinterlassen hatte, der zusammen mit seinem »chiodo«-Zettelchen auf den Boden gefallen war. Viola saß mit einem Post-It auf der Stirn im Sessel und grinste: »moglie«, Ehefrau. Sie streckte mir einen Block Klebezettelchen entgegen. Auf dem ersten stand »regalo«, Geschenk. So lernte ich Woche für Woche, Zettelchen für Zettelchen.
» DO - DI - CI «, sagte Zia Anna noch mal. Recht bald merkte ich, dass Zia Anna oft Dinge wiederholt, auch gegenüber ihrem Mann Fabio, einem pensionierten Busfahrer, der gern Saxophon spielt, seine wenigen Haare zum Zopf bindet und seine geschliffene Sportsonnenbrille (die er natürlich von Signor Occhio aus dem Souterrain hat) auch beim Essen nicht abnimmt. Zia Anna wiederholt Dinge oft; auch, wenn niemand so richtig zuhört. Vielleicht ist das ihre Methode, um Zustimmung zu generieren? Irgendwann sagt jeder ja. Wenn man die Dinge zum drittenmal hört, so dicht hintereinander, dann kommen sie einem irgendwie bekannt vor. Und was bekannt ist, wird abgenickt. DO - DI - CI ?
Wir kämen gern, sagte ich. Nett, dass sie uns einlädt.
Es gab Lasagne, dachte ich. Teller und Stücke waren riesig, besonders meins. Ich hatte zwar nicht viel Hunger, aber weil ich guten Willen zeigen wollte, es mir ganz außerordentlich gut schmeckte, Zia Anna nett war und ich dankbar dafür war, dass sie uns so viel Arbeit abnahm, ich all das aber nicht so schnell und ohne Missverständnisse zu provozieren auf Italienisch rausbrachte, fragte ich nach einer zweiten Portion. Sie war noch größer als die erste.
Das letzte Mal, dass ich derart satt gewesen war, ist ein Dutzend Jahre her: Ich war allein mit meinen Eltern in einer Pizzeria.
Ich sagte: »Ich nehme eine Pizza Regina für zwei Personen.« Mein Vater zog die Augenbrauen hoch, meine Mutter tätschelte meine Hand. Die hier machen riesige Dinger, sagte sie. Das könne ich unmöglich schaffen … Sie würde mir empfehlen … Man könne ja noch mal nachbestellen … Sie wolle wirklich nur mein Bestes …
Ich schüttelte den Kopf, winkte der Bedienung und sagte: »Ich nehme die Zweipersonen-Regina und ein großes Spezi.«
Die Bedienung nickte und räumte vor mir den Tisch frei. Kerzen, Öl, Salz, Pfeffer, alles wurde in einem verdächtig großen Radius zur Seite gestellt. Ich dachte mir nichts Böses.
Wir redeten über Schule, ein neues Bett, mein Zimmer und darüber, ob ich es mal wieder aufräumen wollte. Hm, grummelte ich, was Zwölfjährige halt so sagen. Als die Pizza kam, war klar: Es würde einen Kampf geben und es würde um nichts Geringeres gehen als um die Ehre eines Zwölfjährigen. Von Anfang an setzte ich auf Tempo als Strategie. Ich wusste, ich würde meinen Magen quasi rechts überholen müssen. Und ich gab Gas.
Ich kam gut in die zweite Hälfte hinein, kämpfte mich ins letzte Drittel, setzte zum Schlusssprint an, aber als noch ein faustgroßes Stück auf dem Teller lag, war einfach Schluss. Es war nichts mehr zu machen. Das Gefühl: Unterlippe, Oberkante – alles voll.
Zwei Dinge waren klar. Erstens: Ich würde es nicht schaffen. Zweitens: Das darf keiner erfahren. Es gehört schon einiges dazu, in Situationen existentieller Bedrohung noch einen derart kühlen Kopf zu bewahren, um einen Strategiewechsel einzuleiten. Also: Ich murmelte, ich müsste auf die Toilette, packte mir anschließend den Rest in den Mund – zugegeben eine sehr merkwürdige Reihenfolge, aber das ging nur so rum, da ich sonst ja nicht mehr hätte sprechen können – und schritt eilig und mit vollem Mund – ohne noch mal in eines der Elterngesichter zu blicken – in Richtung Rettung.
»So«, meinte Fabio, während ich mir nach Luft japsend gerade die letzte Lasagne-Gabel reindrückte. »Jetzt das
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