Aus Liebe zum Wahnsinn
nannten es Wundertüte: Irgendetwas kaufen, von dem man absolut keine Ahnung hatte, was es sein könnte. So haben wir zum Beispiel in den Bergen vor Eger, in Nord-Ungarn, einen daumengroßen Zylinder für 30 Forint gekauft. Weißes Papier, viel Ungarisch darauf. Den Tag über rätselten wir: DDR -Smarties? Ein Ungarn-Kaleidoskop: bunte Formen, die sich um ein winziges Kádár-Porträt drehen? Zahnstocher? Aus Bruchholz der sowjetischen Taiga? Am Abend dann im Zelt wurde es bei einer Flasche Wein enttarnt. Täteretääää: Ein Fliegenklebeband.
Das Wundertütenspiel ist schuld, dass wir einen Falaffelausstecher aus Nazareth besitzen, fluoreszierende Heftpflaster aus Istanbul, Rosenblütenzigarillos aus Thailand und Mottenkugeln aus Athen. Kleine absurde Dinge, die wir durch unsere Vorurteile mit Geschichten aufladen und so ein wenig von uns und ein wenig vom Land kennenlernen.
Es gibt fast nichts, was eine Nation so schnell und so unauffällig konturiert wie ihr Konsum. Im Supermarkt merkt man, was den Leuten wichtig ist. Welche Produkte gibt es? Wo stehen sie? Wie groß sind die Packungen? Wie viele Marken? Frisch oder pasteurisiert?
Das gilt vor allem für Italien. Jenes Land, in dem selbst winzige Dorfsupermärkte ein Sortiment mit mindestens einem Dutzend verschiedenen Gummidichtungen für Mokkamaschinen führen. In dem eine Discounterkette IDLA heißen kann, ohne dass irgendjemand an Deutschland denkt ( ALDI rückwärts? Hitler? Sie sprechen ihn zumindest sehr ähnlich aus wie diese Dicounterkette). Wo es an jeder Ecke eine Ferramenta gibt, einen Eisenwarenhandel. Ein Tarnname. In Wahrheit ist eine Ferramenta nämlich ein Männergeschäft. Während die Signora Schuhe kauft, sich die Nägel oder Haare machen lässt, fürs Bambino noch eine Kleinigkeit besorgt, steht der italienische Mann in der Ferramenta. Es sind winzige, familiengeführte Baumärkte, in denen man einen mannshohen Seitenschneider, eine Kronkorkenverschlussmaschine, Messingketten als Meterware, sogar Kleintraktoren bekommt. Und unter der Ladentheke eine Box Vogelschrotpatronen.
Italien ist das Land, in dem im Supermarkt niemand Obst oder Gemüse ohne Plastikhandschuhe anfassen darf. Das sorgt immer wieder für unschöne Begegnungen. Dänen, Deutsche, Holländer zerren mit nackten Händen an Pomodori, Arance oder Uva, Tomaten, Orangen, Trauben. Einheimische wenden sich mit Grauen ab, schütteln Köpfe oder schicken Giftblicke. Manche halten dann ganz plötzlich einen dieser Knisterhandschuhe vorwurfsvoll nahe unter die Nase der Stranieri, der Fremden. Barhändig in Italien Obst und Gemüse einzukaufen ist eine Mutprobe.
Die Knisterhandschuhe sind ein Gebiet, auf dem Italiener ganz bei sich sind, sich gegen Touristen und ihr Geld zur Wehr setzen. Es ist ein Ventil: Wenn einen Italiener die lauten, käsebleichen, unschmucken Touristen mal wieder zu sehr nerven, dann legt er sich im Obst- und Gemüsetrakt eines meernahen Supermarkts zum Kulturkampf auf die Lauer. Einmal habe ich ein Foto in so einem Gemüsetrakt gemacht, Viola prüft gerade eine Aubergine. Das letzte Mal ohne Plastikhandschuh. Das Foto ist eine Totale, Viola nur ganz klein, zusammen mit einem Dutzend anderer Supermarktkunden. Die Keifnudel, die mit großer Empörung und unflätigen Worten gleich zum Kulturkampf ansetzen wird, macht gerade einen großen Schritt Richtung Viola.
Das Foto klebt in unserem Bastelprojekt »La nostra Firenze«, ein Büchlein mit lauter Suchbildern: Unser eigenes Florenz. Immer ist einer von uns vieren drauf, immer ist unser Florenzleben in Totalen abgebildet.
Viola sitzt da zum Beispiel in der Mensa. Elena liegt schlafend auf dem Tisch. Rundherum Studenten. Gianna isst Primo, Viola Secondo. Auf dem Tablett stehen noch etliche Joghurts, die uns die aufgeregten Küchenhilfen jedes Mal zusteckten, manchmal sogar extra noch an den Platz brachten. »Che bambini! Complimenti!«
Bild zwei: Viola radelt auf ihrem orangefarbenen Graziella-Klapprad durch die Menschenmenge auf der Piazza del Duomo, wo den Pferden Heusäcke ums Maul gebunden sind: Futter to go.
Bild drei: Eine historische Häuserschlucht, ganz hinten ich mit Kolonialwagen und riesigen Kopfhörern. Während ich Elena zum Einschlafen über mittelalterliches Holperpflaster schaukele, höre ich Hörspiele. Ein bisschen Widerstand gegen dieses Duzideizi-Bambini-Gehabe.
Eine Innenaufnahme von Santa Croce: Neben einer Säule hantiere ich gerade im Kinderwagen, Elenas nackte Füße ragen in die
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