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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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Luft. Gianna schaut zu mir hoch. Es ist Winter und die Kirche der wärmste Platz zum Wickeln. Ein paar Monate später, ein paar Kirchen weiter, ganz klein und vorne: Elena im Taufkleid, natürlich mit Rüschen, natürlich mit Tüll, natürlich selbstgemacht. Natürlich von Zia Anna.
    Uffizien, David, Ledergürtelmarkt, Ponte Vecchio, Arno, Cascine: Immer steht einer von uns ganz klein im Bild, Papa oder Mama, Kind oder Kinderwagen, hält eine Banane, probiert einen Gürtel oder jagt Tauben. Eine Serie heißt »i nostri caffè«: In jeder neuen Bar, in der wir Kaffee trinken, machen wir eine Selbstauslöseraufnahme. Leider fehlen viele Aufnahmen, weil wir die Kamera samt Film in einer Bar nähe Uni haben stehen lassen. Ein letztes Mal in Richtung Kamera gegrinst – Banane geschält, Keks besorgt, Caffè getrunken, Krümel zusammengefegt, Kind beruhigt, Caffè bezahlt – Kamera vergessen.
    Halb so wild. Mit den Kindern haben wir uns eine Gelassenheit antrainiert, mit der wir gern auch unserer eigenen Schusseligkeit begegnen. Die Tatsache, dass man Kinder hat, macht einen noch nicht zum besseren Menschen. Natürlich nicht. Aber wer Kinder hat, stellt andere Fragen. An den Alltag, an das Leben, an das Glück. Das ist weniger charakterliche Großzügigkeit als vielmehr Kapitulation vor Schwund und Missgeschick. Ich traue mich, mehr Spiel ins Leben zu holen. Beim Pfannkuchenbacken etwa denke ich an Tintenklecks-Tests. Was ich da gebacken habe? Küchenpsychologie. Im Herbst runterfallende Blätter fangen? Das bringt Glück. Ob wir uns nicht eine Familiendraisine bauen sollen und damit Urlaub auf stillgelegten Bahnstrecken machen, neue Wege gehen? Was mit meinen alten Telefonnummern passiert ist? Wer da jetzt abhebt? Einfach mal anrufen?
    Im Gegenzug zu mehr Spiel und dickerer Haut entwickelt sich mit Kindern eine enorme Verletzlichkeit. Plötzlich gibt es da eine Angst, die größer ist, als die um sich selbst.
    Ich war irgendwo draußen, mit Elena und Gianna, mit Kolonialwagen und Kamelsitz. Der Metallsitz war oben auf der Kinderwagenschale montiert, gegen Fahrtrichtung. Gianna war angeschnallt. Ich hatte es eilig, musste noch nach Hause, das heißt, vorher noch zum Supermarkt, und das, bevor der Mittagspause machte. Es war ein ziemlich hoher Bordstein, den ich mit dem Wagen runter musste, und ich nahm ihn frontal. Ich war schnell, kurz bevor ich die Vorderräder auf der Straße absetzte, bremste ich ab, was dem Kamelsitz samt Gianna noch mehr Schwung gab. Und auf einmal kippte Gianna samt Sitz. Nach hinten, weg von mir. Sie kippte in den Wagen und schlug mit der stahlverstrebten Rückenlehne und dem Gewicht einer Zweieinhalbjährigen voll auf Elenas Säuglingskopf. Es machte kein Geräusch. Es war ganz still. Mein Blut schockgefror. Dann riss ich Gianna runter und nahm Elena raus. Sie brüllte. Gut, das war gut. Ich schaute in ihr Gesicht. Sie blutete. Schlecht, das war schlecht. Aus dem Auge. Das war verdammt schlecht.
    Es waren nur wenige hundert Meter nach Hause. Aber hier hätte noch mal alles passieren können. Ich klemmte mir die brüllende und blutende Elena unter den Arm, wuchtete Gianna samt dem verdammten Kamelsitz in den Wagen und rannte los. Im Kopf die Bilder unseres zukünftigen Lebens: Wird sie sich jemals selbständig anziehen können? Die Schnürsenkel binden? Wird sie lesen und laufen lernen? Lügen und lästern? Wird sie mich je wiedererkennen? Mich, der sein Leben in Schuld verbringen wird.
    Als mir eine wahnsinnig lange Stunde später der Arzt im Florentiner Kinderkrankenhaus, wo das vielleicht armseligste Aquarium der ganzen Welt steht, sagte, dass es nichts weiter als ein kleiner Kratzer im Augenlid war, fing ich endlich an zu weinen.
     
    Irgendwas muss mit den Vongole falsch sein. Ich kündige noch mal an, welche zu kaufen. In Weißwein mit viel Knoblauch und frischem Brot. Viola druckst rum, meint, man müsse erst … und man könne nicht gleich … und überhaupt …
    Am Abend ist sie es dann, die eine Packung ins Eisfach legt. Sie sei gerade vorbeigekommen. Vorbeigekommen? Ich schüttele den Kopf. Am Supermarkt? Einen Stock tiefer? Und was ist eigentlich mit dieser blauen Tüte im Gang, die jetzt plötzlich weg ist? Ich öffne unser kleines Tiefkühlfach. Wie immer vereist und überfüllt, ganz vorne die Vongole, unter Vakuum, gefroren, gleich neben unserer Miete für die Schwester der Basilikumfreundin von Zia Anna, immer in bar. Überweisungen, das sei immer so kompliziert hier in

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