Aus Nebel geboren
sein Wille war, der uns hierhergeführt hat. Vertraue ihm, uns den rechten Weg zu weisen“, versuchte Arjen, den Jüngsten zu beruhigen. Als dieser nickte, rückten die Männer zusammen und stellten sich zögernd um den Tisch auf. Arjen reichte Julien den Dolch, den dieser schwungvoll auf dem Tisch kreiseln ließ.
Alle Augen waren auf die glänzende Klinge geheftet, und keiner wagte zu atmen, bis mit einem leisen Klirren die Schneide zur Ruhe kam.
„Claudio? Bist du einverstanden?“, fragte Julien, und wie alle anderen blickte er von der Dolchspitze zu dem Mann, auf den diese zeigte. Claudio schwieg. Er war blass unter seinem Bart und sah unsicher aus, als er schließlich nickte.
„Wenn ihr alle denkt, dass ich der Richtige bin?“
Said hatte schweigend zugesehen, erhob aber nun die Stimme.
„Ihr seid leichtfertig!“, warnte er die Männer. „Überlegt, wozu ihr ihn verdammt. Unsterblichkeit mag ein Segen sein, aber ist sie nicht zugleich ein Fluch?“
Lamar schlug die Faust auf den Tisch. Seine Stimme bebte vor Zorn, als er Said ganz nahe kam. Seine Stirn berührte fast die des Heiden, und seine Hände waren erbost zu Fäusten geballt.
„Halt dein Maul!“, verlangte er. „Du und dein gottloses Gewäsch, ihr habt schon genug angerichtet! In einer Nacht aus gottesfürchtigen Männern einen Haufen Narren gemacht! Wir hätten dir die Zunge herausschneiden sollen, ehe du dein verfluchtes Maul auch nur einmal aufgemacht hast. Du willst uns für dumm verkaufen? Wird sich herausstellen, dass deine Geschichte das Märchen ist, für das ich sie halte, wenn wir es auf den Versuch ankommen lassen?“
Said wich nicht zurück, obwohl Lamar seine Hand an der Scheide seines Schwertes hatte.
„Du stehst hier und säufst unseren Wein, als wärst du einer von uns – aber das bist du nicht! Dieser Becher ist alles, was du von uns erhalten wirst. So entlohnen wir Barden, wenn sie uns eine unterhaltsame Geschichte auftischen!“
Er zog sein Schwert.
„Und du solltest besser beten, dass Claudio dies überlebt, denn damit steht und fällt auch dein Kopf.“
Said hob ergeben die Hände und ließ sich von Lamar widerstandslos an den Rand des Zeltes führen.
Julien wusste, er konnte seinen Gefährten nicht davon abbringen, Said wie einen Gefangenen zu behandeln, denn genau genommen war er das auch. Aber Lamar war auch nicht Zeuge von Saids Ehre geworden oder hatte mit ihm den Geheimgang hinab zum Grab Jesu beschritten. Was sie dort erlebt hatten …
Julien schüttelte den Kopf, um die unbeschreiblichen Erlebnisse dieses Tages zu verdrängen, denn, obwohl er Said glaubte, wollte er sich doch selbst überzeugen.
„Was ist zu tun?“, fragte er und wandte nichts ein, als Lamar Saids Hände in Fesseln legte. Er hoffte, die Wahrheit würde auch Lamar beschwichtigen.
Der morgenländische Krieger rückte seine ledernen Armstulpen unter den Fesseln zurecht, ehe er antwortete.
„Gebt einen Tropfen des Elixiers in seinen Mund. Es wird seine sterbliche Hülle vernichten und ihn wie aus Nebel wiederkehren lassen. So wurde es mir überliefert. Ich habe es nie gesehen und hoffte, es nie mit eigenen Augen sehen zu müssen. Lasst mich sagen: Was ihr tut, ist falsch. Niemand sollte den Rubin öffnen.“
„Genug! Wir haben verstanden, was du sagst, aber es liegt nicht in deiner Hand, Heide!“, maulte Lamar und bezog neben Said Stellung.
Claudio gab Julien ein Zeichen, dass er bereit war. Zum Sprechen fehlte ihm der Mut. Julien ahnte, wie sein Freund sich fühlen musste. Angst, wie vor einer Schlacht, hatte vermutlich von ihm Besitz ergriffen und ließ sein Herz schneller schlagen. Wie gerne hätte Julien ihm Mut gemacht. Gesagt, dass sie ihm wie immer Rückendeckung geben würden, ihm versichert, dass er alles heil überstehen würde, aber das konnte er nicht. Vorsichtig öffnete er den Verschluss des Rubins und goss einen Tropfen auf Claudios blutleere Lippen.
Eine lange Nacht
Paris, heute
Fay hatte ein schlechtes Gewissen. Trotz der merkwürdigen Umstände, trotz der Bedrohung durch den Wanderer und der Sorge um ihre Schwester genoss sie den Wasserfallstrahl auf ihren Schultern und das parfümierte Duschgel auf ihrer Haut.
Fay lehnte ihren Kopf in den Nacken. Heiß wusch das Wasser in diesem Moment ihre Sorgen beiseite, und das Bild des Mannes, der sie hierhergebracht hatte, stand ihr vor Augen.
Sie hatte ja wirklich schon viele Männer gesehen. Mehr, als ihr lieb war, aber noch nie hatte sie es mit so einem Kerl zu
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