Aus Nebel geboren
Welt heute ganz anders aus, hätten sie damals anders entschieden.
Damals, als ihnen das Geschenk – oder die Verantwortung – des Elixiers offenbart worden war.
Aus Nebel geboren
Jerusalem, 1099
Der Sandsturm hatte sich so schnell gelegt, wie er aufgekommen war, und in der Zeltstadt herrschte rege Betriebsamkeit. Alle waren damit beschäftigt, wieder Ordnung in den staubigen Soldatenhaufen zu bekommen, die durchgegangenen Pferde einzufangen und die eingestürzten Zelte wieder aufzustellen. Niemand hatte Augen für etwas anderes als das, was direkt um ihn herum geschah. Keiner ahnte, was sich in ihrer Mitte zugetragen hatte. Niemand, außer der Handvoll Männer in Juliens Zelt.
Die saßen noch immer starr vor Erstaunen da, und ihnen allen war klar, dass – was immer sie gerade erlebt hatten – unbedingt geschützt werden musste. Sie wussten nicht wie, aber Saids Forderung nach Hütern für das Elixier schien ihnen einleuchtend. Seit dem Sonnenaufgang hatten sie alle Möglichkeiten abgewogen und waren noch immer zu keinem Entschluss gekommen.
Julien hatte gehofft, seine Brüder würden die Notwendigkeit der Aufgabe erkennen, aber keiner hatte eine Vorstellung davon, wie man so etwas Bedeutsames richtig schützen konnte.
„Auch meine Männer haben geschworen, die Wahrheit zu schützen“, warf Said ein. „Aber wir sind gescheitert.“
„Wir haben mit Claudio einen unsterblichen Krieger an unserer Seite“, gab Gabriel zu bedenken und sah noch immer ungläubig auf seinen von den Toten auferstandenen Freund.
Said sah traurig zu Claudio hinüber.
„Entschuldige meine Worte, Christ, aber so sehr mich dein Mut und deine Ehre auch beeindrucken, so gut kenne ich doch die Natur der Menschen. Euer Freund Claudio mag heute und in vielen Jahren an eurer Seite für den Schutz des Elixiers sorgen, aber was, wenn er in vielleicht fünfzig Jahren allein zurückbleibt? Könnt ihr beschwören, dass er nicht schwach wird? Dass er sich nicht selbst zum König der Welt ernennt und seine Macht zu Zwecken einsetzt, die mit euren ehrenvollen Absichten heute nichts mehr gemein haben werden?“
„Das wird er nicht!“, rief Louis und trat an die Seite seines Freundes.
„Er ist einer der besten Männer, die du finden kannst“, verteidigte er ihn gegen Saids Unterstellung, doch Claudio nickte nachdenklich.
„Nein, Louis. Was der Heide sagt, ist nicht von der Hand zu weisen. Ich bin nur ein Mensch, und wir alle wissen, wozu Menschen fähig sind. Selbstüberschätzung gehört dazu, und ich will nicht, dass euer Vertrauen in mich sich irgendwann als Fehler herausstellt, nur weil ich heute voll des Glaubens bin, in eurem Sinne zu handeln. Also – was können wir tun?“
Die Männer sahen sich schweigend an. Sie alle haderten noch immer damit, für etwas gekämpft und getötet zu haben, das scheinbar eine einzige Lüge war.
War Jesus Christus womöglich nicht durch Gottes Gnade von den Toten auferstanden, sondern durch die Macht des Elixiers? Hatte er vielleicht sogar geahnt, dass er wiedergeboren werden würde? War alles nur eine einzige Täuschung? Und – war es vorstellbar, dass die Kirche davon wusste, und dieser Kreuzzug dazu dienen sollte, dies alles zu verbergen? War dieser Kreuzzug kein Krieg im Namen Gottes?
„Schulden wir es nicht allen Menschen, unser Wissen zu offenbaren?“, fragte Arjen und sah auf das goldene Kreuz, welches er an einer großgliedrigen Kette vor seiner Brust trug.
Schultern wurden gezuckt, halblaute Antworten gemurmelt, bis Julien sich erhob.
„Nein, Männer. Das dürfen wir nicht.“
Er begann, auf und ab zu laufen, um besser denken zu können.
„Das Elixier in diesem Rubin hat göttliche Kräfte. Selbst wenn Josef von Arimathäa dieses Elixier bei Jesus von Nazareth angewendet haben sollte, heißt das doch noch lange nicht, dass alles, was unseren Glauben ausmacht, eine Lüge ist. Vielleicht müssen wir von heute an kritisch sein, was die Wunderheilungen durch Jesus angeht, vielleicht skeptisch bleiben, wenn wir an die Erweckung von den Toten denken, wie Jesus es bei Lazarus tat. Aber wir dürfen nicht vergessen: Für viele Menschen ist der Glaube an Gottes Himmelreich die letzte Hoffnung.“
Julien faltete die Hände wie zum Gebet.
„Überlegt selbst, wie oft ihr Kraft aus einem Gebet gezogen habt. Oder wie ihr den Verlust eines geliebten Menschen leichter ertragen konntet, weil wir glaubten, ihn nun in der Obhut und grenzenlosen Liebe Gottes zu sehen. Wie viele Totkranke
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