Aus Nebel geboren
würde am nächsten Tag wiederkehren und sich erklären.
Die Nacht schlich träge dahin, aber Julien verspürte keine Müdigkeit. Er fühlte die brennenden Augen seiner Männer im Rücken, die auf das Wunder warteten, an das sie selbst kaum glaubten. Lamars stiller Zweifel füllte das Zelt und kroch Julien mit jeder Minute, die verstrich, weiter unter die Haut. Das Wispern des Wüstenwindes trug noch immer den Geruch von Tod mit sich und verbreitete seine traurige Melodie innerhalb der Zeltstadt.
Mit dem ersten blauen Streifen am Horizont, welcher den nahenden Morgen einläutete, veränderte sich die Luft. Die Kälte des Nachtwindes wurde von heißen Böen vertrieben. Diese trugen so viel Staub mit sich, dass das gesamte Lager darunter versank. Der Sand prasselte wie Regen auf die ledernen Zelte nieder und quoll durch die kleinsten Ritzen.
Wie Nebel waberte er unter den Zeltwänden hindurch und konzentrierte sich um Juliens Bett. Die Männer erhoben sich langsam, und jedem von ihnen war klar, dass etwas Ungewöhnliches vorging. Die Fackeln flackerten, und zwei von ihnen erloschen zischend, als ein Windstoß die Zeltplanen hob und noch mehr Staub mit sich brachte.
„Juls?“, fragte Gabriel und bekreuzigte sich, wobei er einen Schritt nach hinten wich, um dem hereinströmenden Sand – oder war es Nebel? – zu entkommen.
„Was geht hier vor?“
Julien war ebenfalls aufgestanden, und Lamar hielt seine Waffe parat, schien aber unsicher, was er damit tun sollte.
„Warte, Bruder! Lass uns sehen, was geschieht.“
Er reichte Said, der am Boden saß, die Hand und half ihm auf die Beine.
„Julien?“, rief nun auch Arnulf drängend.
Mit einem bittenden Blick auf Lamar wandte sich Julien an seine Männer, die er im sengenden Staub kaum mehr ausmachen konnte. Er hielt sich den Arm vor Mund und Nase, um atmen zu können.
„Ich denke, Männer, wir werden gerade Zeuge von etwas Großem. Also lasst uns abwarten und hoffen, dass Saids Elixier kann, was er uns versprochen hat. Lasst uns, zu welchem Gott auch immer, zu dieser Kraft, die hier am Werk ist, für Claudio beten!“
Am Horizont glühten die ersten Strahlen der Sonne auf, und es war, als küsste das Licht den Erdenraum mit heißer, leidenschaftlicher Zunge. Im Zelt wurde es schlagartig warm, hell und leuchtend. Claudio schien sich, losgelöst von allem Irdischen – vor ihren Augen in eine Lichtgestalt zu verwandeln. Die Männer beschatteten ihre Augen, so geblendet waren sie von diesem unwirklichen Anblick. Nebelschwaden waberten um den Leichnam herum, und wie Feuer, in dessen Mitte eine rote Glut lebte, verschmolz Claudios Hülle zu einem glühenden Ball in flammendem Dunst.
„Heilige Muttergottes!“, flüsterte Arnulf in die Stille.
Hitze schlug ihnen entgegen, und Cruz trat an Juliens Seite.
„Wie ein Weib, das ich einst auf einem Scheiterhaufen brennen sah“, murmelte er.
Und tatsächlich schien es, als zuckten Claudios Glieder unter den Nebelflammen. Juliens Augen tränten in der brennenden Luft, der Schweiß tränkte sein Hemd, aber er vermochte es nicht, ein Stück zurückzutreten. Er spürte die Kräfte, die in diesem Zelt wirkten, und wünschte, er selbst wäre an Claudios Stelle.
Wie es sich wohl anfühlt, aus Nebel geboren zu werden?
Er schauderte, als sich der Dunst zu einer leuchtenden Pyramide formte, die Claudios Körper vor ihrer aller Augen verbarg.
Wie lange Julien auf den Gipfel aus Licht gestarrt hatte, wusste er nicht. Noch konnte er sagen, ob er atmete oder ob das Herz in seiner Brust weiterschlug. Nur eines war noch von Bedeutung – und das war diese göttliche Hitze, die ihn zu verbrennen schien, ihm aber zugleich das wahre Wunder vorenthielt.
Ein weiterer Windstoß blähte das Zelt, und ein markerschütterndes Heulen fuhr ihnen durch die Knochen, als Spannleinen und Ankerpfosten herausgerissen wurden. Wild wie die schuppigen Schwingen einer Bestie schlugen die Zeltplanen in den Himmel. Im nächsten Moment sank der glühende Nebel zu Boden, als Sand, der vom Wind zurück in die Wüste getragen wurde und die Männer dem violetten Licht des neugeborenen Tages überließ.
Julien schützte seine Augen vor dem tanzenden Staub, und, als er blinzelte, glaubte er zu träumen.
„Was ist passiert?“, fragte Claudio und setzte sich auf.
Kompliziert
Paris, heute
Seine Lippen waren weich, und das sanfte Kratzen seines Dreitagebartes an ihrer Wange war erregend. Fay seufzte leise und drängte sich näher an die verlockend
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