Aus reiner Mordlust: Der Serienmordexperte über Thrill-Killer (German Edition)
weiblichen. Alles wie gehabt. Er gibt der Kellnerin ein Zeichen. Bald steht das nächste Glas Bier vor ihm auf dem Tresen. Er schaut der Bedienung hinterher. Die vielleicht? Seine Gedanken schweifen ab.
Das war in der ersten Zeit, da war ich vielleicht sieben oder acht Jahre alt, keine konkreten Phantasien. Das war eher ein Abgleiten oder ein Übergang in eine andere Ebene, also mehr nach innen gerichtet. Das funktionierte nur, wenn ich alleine war. Das war so, als wenn ich mich nach außen hin abgeschaltet hätte, also um mich herum nichts mehr wahrgenommen habe. Tagtraum ist wohl der richtige Begriff dafür. Einfach eine Welt, in die man flüchten kann, wo man nicht geärgert wird, wo einem keiner was kann. Ich war dann umgeben von Farben oder Landschaften, Sonne, Meer. Es war warm und angenehm. Da waren aber keine Personen. Ich konnte mich selbst nicht sehen. Das hat mich sehr beruhigt. Das war richtig gut. Ich fühlte mich da irgendwie sicher.
Seit Jahren ist er von dieser Vorstellung regelrecht besessen. In seiner Phantasie ist es schon x-mal passiert. Wieder und wieder stellt er es sich vor: Er ist ein überaus erfolgreicher Jäger, der keine Gnade kennt. Ein Zerstörer. Ein kaltblütiger Killer.
Jetzt sitzt er wieder in einer Kneipe und kämpft mit sich: Soll ich? Wo? Wen? Wann? Nur wie er sein Opfer töten will, das steht fest. Das muss so sein. Anders geht es nicht.
Irgendwann gab es eine Veränderung. Aus den Träumereien wurden bestimmte Situationen und Handlungen, die ich beeinflussen konnte. Ich war jetzt nicht mehr einfach nur anwesend, also Teil eines Geschehens, sondern konnte die Personen beeinflussen. Die mussten dann das machen, was ich wollte. Es waren aber keine vollständigen Bilder wie im Fernsehen, sondern das war irgendwie abstrakt, so einzelne Szenen. Ich gebe mal ein Beispiel: Meine Mutter kommt in mein Zimmer, wenn ich bei den Hausaufgaben bin, und schaut mir über die Schulter. In der Wirklichkeit gab es dann regelmäßig Gemotze, in meiner Phantasie aber nicht. Die ging einfach wieder raus und sagte nichts. Das war für mich eine einschneidende Erfahrung. Ich konnte die Realität verformen, und zwar in meinem Sinne. Deshalb war ich ab diesem Zeitpunkt häufiger als vorher in dieser anderen Welt. Wenn ich eine schlechte Phase hatte, dann war ich fast ständig dort.
Er trinkt das Bier aus und bezahlt, verlässt die Kneipe, schlurft Richtung Henselmann-Arkaden. Es wird allmählich dunkel. Jonas Klingbeil schaut auf die Uhr: 17.15 Uhr. Das großflächige Einkaufszentrum wurde vor drei Jahren gebaut und befindet sich südöstlich der Innenstadt. Nur noch fünf Gehminuten, dann ist er da. Das ehemalige Künstlerviertel entwickelte sich zu einem vielbesuchten Shoppingcenter, und er ist gerne dort. Da kennt ihn niemand. Vor allem erkennt ihn niemand. Anonymität bedeutet für ihn Schutz und Sicherheit. Niemand achtet auf ihn. Niemand interessiert sich dafür, was er denkt, fühlt, begehrt. Das würde auch niemand verstehen. Das nicht.
Meine Phantasien als Junge im Alter von zehn oder elf Jahren waren keine vollständigen Bilder wie im Fernsehen, also mit Personen und einer bestimmten Umgebung. Es war eher so, dass ich wusste, wer das war und wo ich mich mit dieser Person befand. Mehr konnte ich eigentlich nicht sehen. Das hat mich auch nicht interessiert. Es war also kein klares Bild, sondern eher verschwommen. Entscheidend war für mich, dass ich diese Person, manchmal war es auch eine Gruppe, beeinflussen konnte, also in meinem Sinne. Ich fühlte mich dadurch stark und irgendwie auch unbesiegbar. Keiner kam an mich ran, aber umgekehrt schon.
Die lichtdurchfluteten Ladenstraßen mit Rotunden und Springbrunnen befinden sich auf vier Ebenen der Einkaufsgalerie. Zielstrebig durchquert er das weitläufige Gebäude im Parterre, die zahlreichen Lebensmittelgeschäfte und Fachmärkte links und rechts interessieren ihn nicht. Er nimmt die Rolltreppe. Im ersten Stock angekommen, stellt er sich an das Geländer und hält Ausschau; wie ein Jäger auf seinem Hochsitz. Seine Augen kleben förmlich an Frauen, die ihm gefallen und die er gerne töten würde.
Als er sich sattgesehen hat, führt ihn sein Weg ins »Pavillon«, eine eher unauffällige Kneipe, etwas versteckt gelegen am Ende der Ladenzeile, keine 20 Meter entfernt. Er verkehrt hier nicht regelmäßig. Dadurch will er vermeiden, dass man sich an ihn erinnert, wenn es passiert. Jonas Klingbeil realisiert mittlerweile, dass es passieren
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