Aus reiner Mordlust: Der Serienmordexperte über Thrill-Killer (German Edition)
autark.
Der Gerichtsgutachter wird später nach mehrwöchigen Gesprächen und Tests bei Karsten Klinger insbesondere eine schizoide Persönlichkeitsstörung feststellen, die anhand folgender Verhaltensweisen diagnostiziert werden kann:
Proband zeigt überhaupt keine oder nur wenig Freude an Tätigkeiten;
emotional kühl, distanziert oder abgeflachter Affekt;
reduzierte Fähigkeit, warme, zärtliche Gefühle oder Ärger auszudrücken;
scheint gleichgültig gegenüber Lob und Kritik;
hat wenig Interesse an sexuellen Erfahrungen mit anderen Menschen;
bevorzugt fast immer Aktivitäten, die alleine durchzuführen sind;
übermäßige Inanspruchnahme durch Phantasien und Introvertiertheit;
hat oder will keine engen Freunde oder vertrauensvolle Beziehungen;
mangelhaftes Gespür für soziale Normen und Konventionen.
Normalerweise wird die Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung bereits dann gestellt, wenn vier der genannten Merkmale vorliegen. Karsten Klinger indes erfüllt sie nach Einschätzung des Experten alle.
Nachdem Karsten Klinger sich seiner Homosexualität bewusst wird, unternimmt er in seinem Leben, das in allen anderen Bereichen so unauffällig verläuft, als gäbe es ihn gar nicht, nur wenige, eher halbherzige Versuche, eine tragfähige Liebesbeziehung aufzubauen. Dafür ist er zu gehemmt und zu blockiert, zu unerfahren. Diese seltenen Bemühungen um Annäherung bleiben aber auch deshalb unbefriedigend, weil Karsten Klinger nicht den Mut aufbringt, seine sexuellen Bedürfnisse zu artikulieren, und er die deshalb erlebte Frustration unausgesprochen seinen Partnern zuschreibt. Ein Teufelskreis. Am Ende dieser Fehlentwicklung stehen Introspektion und Selbstverliebtheit, ein nach innen und auf sich selbst bezogenes Leben. Und durch diese pathologische Form der sozialen Frigidität wird auch erklärbar, warum Karsten Klinger letztlich unfähig ist, für andere Menschen Gefühle zu entwickeln – sie existieren in diesem Sinne für ihn gar nicht.
Allerdings bedingt eine schizoide Persönlichkeitsstörung allein nicht zwingend die unnatürliche Freude daran, einen Menschen auf möglichst grausame Weise zu töten. Ein weiterer Aspekt muss hinzutreten: das episodenhafte Leben in einer imaginären Parallelwelt, die schattenhaft und grenzenlos erscheint, die magische Momente bereithält, die keine Tabus kennt, die nur den eigenen Regeln folgt, in der sich bestimmte Szenarien generieren und beliebig formen lassen, die als besonders lustvoll erlebt und letztlich auch angestrebt und ausgelebt werden wollen.
Phantasien ermöglichen allgemein ein introspektives Erleben, sie sind das innere Drehbuch, nach dem der Film im Kopf abläuft. Menschen gestalten und instrumentalisieren solche Vorstellungen, nutzen sie als Spielwiese bzw. Surrogat für ihre unerfüllten oder unerfüllbaren Bedürfnisse und Leidenschaften. Manchmal dient die Imagination aber auch als Generalprobe für die Realität. Kriminogene Szenarien entstehen immer dann, wenn extrem gewaltbesetzte Visionen und Obsessionen das Bewusstsein überlagern, auf Verwirklichung drängen und sich schließlich in realen Handlungen entladen.
Bei Karsten Klinger fängt alles eher harmlos an: leblose Krieger, ausnahmslos männlich, langmähnig, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, auf dem Rücken liegend, ausdruckslose Gesichter, Schussverletzungen in der Brust, Pfeile, die aus Oberkörpern und Gliedmaßen herausragen – die Kamera fährt in Nahaufnahme über ein Schlachtfeld, Szenen aus einem Winnetou-Streifen. Karsten Klinger ist zwölf Jahre alt, als er sich solche Filme anschaut und überrascht feststellt, dass ihn bestimmte Bilder und Spielszenen aufregen und erregen, vor allem dann, wenn Männer miteinander kämpfen und einer dabei den Tod findet.
Während jeder herkömmliche Film zwangsläufig ein Ende hat, kennt das Kino in seinem Kopf keine Grenzen. In dieser phantastisch anmutenden Scheinwelt gelingt die angestrebte Verknüpfung von Sexualität und Tod immer wieder, kein Wunsch, sei er auch noch so absonderlich, bleibt unerfüllt. Diese Erfahrung prägt und stabilisiert ihn. Und so kann sich die verhängnisvolle Verbindung von Zärtlichkeit und Gewalt in seinem Bewusstsein fortentwickeln wie ein Krebsgeschwür, das unerkannt und unbehandelt bleibt. Aber das ritualisierte Phantasieren festigt auch seine hochabnorme Persönlichkeit, denn in dem von der Norm abweichenden Verhalten werden die aggressiven und destruktiven Impulse gebunden und
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