Aus reiner Mordlust: Der Serienmordexperte über Thrill-Killer (German Edition)
verhindert werden können?
Florian Kranz wächst in einer nordrhein-westfälischen Metropole auf. Sein Vater ist von Beruf Kranführer, die Mutter kümmert sich um die fünfköpfige Familie. Florian ist der Erstgeborene. Als der Vater an Nierenkrebs erkrankt, muss er seinen Job aufgeben, wird Frührentner. Die Mutter geht deshalb in einer Arztpraxis putzen. Die Familie kann sich zwar finanziell über Wasser halten, aber der Druck, jede Anschaffung genau überlegen und auf viele Annehmlichkeiten verzichten zu müssen, macht das Leben schwer.
Als Florian sechs Jahre alt ist, zeigen sich die ersten Tics: Er verdreht die Augen, blinzelt, die Lippen verformen sich, er zieht die Nase hoch, obwohl er nicht erkältet ist. Seine Eltern bemerken dies erst, als die Tics kombiniert auftreten. Der Kinderarzt diagnostiziert eine Tic-Störung, die sich auch zum sogenannten Tourette-Syndrom entwickeln kann, einer neurologisch-psychiatrischen Erkrankung, die als seelische Behinderung anerkannt ist und neben den vokalen und motorischen Tics begleitet wird von Angststörungen und Zwangshandlungen.
Seine Klassenkameraden hänseln Florian wegen seiner Tics, weil sie nicht ausreichend darüber aufgeklärt werden, dass er nichts dafür kann, wenn sich seine Gesichtszüge unwillkürlich verkrampfen und ihn komisch aussehen lassen. Florian zieht sich nach und nach zurück, steht in den Pausen allein auf dem Schulhof herum; er traut sich nicht, Kontakt aufzunehmen, weil er Angst hat, wieder schikaniert und drangsaliert zu werden. Dann besser allein bleiben.
Während seine Leistungen in der Grundschule noch durchaus zufriedenstellend sind, sackt er auf der Realschule ab. Sein Interesse an schulischen Dingen lässt nach, er bleibt dem Unterricht immer häufiger fern, treibt sich lieber herum, meistens in einem Naturschutzgebiet. Sein Tagesablauf hat keine Struktur mehr, sein Leben keinen Rhythmus. Die soziale Integration misslingt. Florian entwickelt sich zu einem Außenseiter.
Freundschaften schließt er nicht, auch das Verhältnis zu den Eltern ist schwer belastet. Florian erlebt den Vater als gewalttätigen und gefühllosen Patriarchen, die Mutter erscheint ihm hilflos und hinterhältig, weil sie sich nicht schützend vor ihn stellt, wenn er etwas ausgefressen hat, sondern den Vater animiert, das übliche Bestrafungsritual vorzunehmen: Ledergürtel auf den nackten Po. Jahre später wird Florian über seine Erziehungsberechtigten sagen: »Ich hasse meine Eltern.«
Als er in die Pubertät kommt, verschlechtern sich seine schulischen Leistungen, schließlich muss er die Realschule verlassen. In dieser Zeit entwickelt er einen Tic, den er in den kommenden Jahren nicht mehr loswird und der ihn nach dem Mord an Holger Brandt und der anschließenden Flucht vor der Kripo verraten wird: Florian muss sich räuspern, mal passiert es im Sekundentakt, mal vergehen Minuten, manchmal auch Stunden. Wenn er unter Stress steht, ist es besonders schlimm.
Weil Florian sich nicht unter die Menschen traut, verbringt er seine Freizeit häufiger vor dem Computer, insbesondere die Computertechnik weckt sein Interesse. Maschinen sind im Gegensatz zu Menschen berechen- und beherrschbar, geben keine Widerworte und beleidigen nicht. Die intensive geistige Auseinandersetzung mit technischen Herausforderungen stabilisiert die poröse Persönlichkeit und lenkt ihn ab von seinen zwischenmenschlichen Problemen. Wahrscheinlich ist dies der Grund dafür, dass sich seine schulischen Leistungen in der Folgezeit stark verbessern und er auf die Realschule zurückkehren kann.
Als Florian sich für Mädchen zu interessieren beginnt, erlebt er die nächsten Enttäuschungen: Dreimal versucht er, sich einer Klassenkameradin anzunähern, dreimal wird er zurückgewiesen, und zwar unmissverständlich. Mit seinen langen, gewellten, strähnigen Haaren, den eher weichen Gesichtszügen und seiner hageren Erscheinung wird er von den jungen Frauen als unmännlich wahrgenommen. »Hau ab, du Mädchen!«, bekommt er etwa zu hören. Diese Zurückweisungen verunsichern ihn und bestätigen das quälende Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Wieder ist er der Underdog, mit dem sich niemand abgeben will. In der sozialen Hierarchie ist er ganz unten angekommen. Und sieht sich so zusehends in seiner Einschätzung bestärkt, die eigenen vermeintlich beachtlichen intellektuellen und sonstigen Fähigkeiten würden verkannt oder nicht ausreichend gewürdigt.
Die fehlende elterliche Vorbildfunktion
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