Aus reiner Mordlust: Der Serienmordexperte über Thrill-Killer (German Edition)
hören.
Dann macht der Mann eine Entdeckung: Hinter dem Regal rechts neben ihm befindet sich eine Stahltür. Er schleicht um das Regal herum, die Pistole wieder im Anschlag. Denn er weiß aus Erfahrung, dass jederzeit mit einem Angriff zu rechnen ist. Er muss also vorbereitet sein. Er hat nur ein Leben.
Die Tür lässt sich mühelos öffnen. Der Mann betritt einen weiteren, diesmal wesentlich größeren Raum, der ringsum weiß gekachelt ist. In der Mitte stehen eine ausrangierte Theke, daneben ein alter Holztisch und ein schäbiges Sofa. Am Ende des Raums ist ein Treppenaufgang. Das Neonlicht an der Decke flackert unentwegt und taucht die Szenerie in ein gespenstisch anmutendes Licht.
Peng! Peng! Peng! Gellende Schreie. Laufgeräusche. Plötzlich Stille. Irgendwo im Haus muss geschossen worden sein. Auf Menschen. Der Mann sprintet die Treppe hoch, stößt eine Schwingtür auf und bleibt unvermittelt stehen, weil er wieder Geräusche hört. Stimmengewirr? Nein. Eher ein dröhnendes Rauschen. Undefinierbar. Sind die das? Ein Täuschungsmanöver? Wollen die mir Angst machen, überlegt der Mann. Ihm ist nicht wohl zumute. Er kann seine Gegner nicht einschätzen. Er kennt sie nicht. Er hat nur von ihnen gehört. Sie kennen keine Gnade.
Helmut Wagner hat auch heute Abend keine gute Laune. Auch abseits des Diskothekentrubels ergeht es ihm ähnlich. Einer der Gründe für seinen momentanen Verdruss: Kurz nach Ostern ist die Beziehung gescheitert, drei Monate war er mit seiner Freundin zusammen. Seine erste Beziehung mit einer Frau überhaupt. Er hat sogar die Polizei in die gemeinsame Wohnung bemühen müssen, um dort wenigstens an seine Habseligkeiten zu gelangen. Seine alkoholkranke Freundin hatte ihn kurzerhand ausgesperrt. Ohne Vorwarnung, einfach so.
Wenn auch die Trennung auf seine Initiative zurückzuführen ist, so betrachtet er sich doch als gescheitert, fühlt sich als Loser. Wieder einmal. Schon allein seinetwegen hätte sie doch mit dem Trinken aufhören müssen. Wie konnte sie sich nur für den Alkohol entscheiden – und gegen ihn! Dieser frustrierenden Erfahrung hat Helmut Wagner nicht viel entgegenzusetzen. Er weiß mit diesem niederdrückenden Gefühl nicht umzugehen, er kann nur darauf reagieren: Hassgefühle, Frustsaufen, Katerstimmung.
Der Mann schleicht geräuschlos über den Gang, bis er vor einer Holztür steht, die mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Energisch tritt er so lange gegen das Schloss, bis es endlich aufspringt. Hinter der Tür erwartet ihn wieder eine Treppe. Er hastet hinauf und gelangt auf den Dachboden. Der Mann schreckt sofort zurück: Vor ihm sitzt ein Mensch auf einem Stuhl, offenbar männlich, reglos, den Kopf seitlich abgewandt.
Erst als er Schritt für Schritt näher kommt, sieht er die große Blutlache, die sich rings um den Stuhl gebildet hat. Das blaue Holzfällerhemd des Menschen auf dem Stuhl ist blutgetränkt. Der Mann erinnert sich spontan an die Schüsse von eben. Hier muss es passiert sein, schlussfolgert er. Ich bin ihnen dicht auf den Fersen. Er stürmt weiter, durchquert zwei andere Räume und steht mit einem Mal auf dem Flachdach des Hauses. Nur der Wind ist zu hören, der um die Ecken pfeift. Und das unverkennbare Schreien von Möwen. Der Mann begreift erst jetzt, wo er sich befindet: auf dem Dach einer Lagerhalle in der Nähe des Hafens.
Die Suche auf dem Dach verläuft ergebnislos. Komisch, überlegt der Mann, die können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Irgendwo hier müssen die sein. Eben ist doch auch gemeldet worden, dass die hierhin geflüchtet sind. Verdammt!, durchzuckt es den Mann, wahrscheinlich bin ich direkt an ihnen vorbeigelaufen, habe einen Raum übersehen. Er überlegt noch kurz, ob er mit seinen Kollegen Kontakt aufnehmen soll, doch er verwirft diesen Gedanken: Das schaffe ich alleine!
»Gibst du mir einen aus?«
Helmut Wagner reagiert nicht, er hat bei dem Lärm nichts gehört. Die junge Frau neben sich hat er noch nicht bemerkt.
Birgit Lohmann gibt aber so schnell nicht auf und versucht es abermals, diesmal etwas direkter. Die 23-Jährige legt ihre rechte Hand auf seinen linken Arm – und wartet.
»Hallo.« Mehr bringt Helmut Wagner nicht heraus.
»Hey. Ich heiße Rosi.« Birgit Lohmann nennt niemals ihren richtigen Namen, wenn sie als Prostituierte arbeitet. »Gibst du mir einen aus?«
»Klar. Was trinkst du denn so?«
»Sekt wäre okay.« Birgit Lohmann lächelt verführerisch. Und Helmut Wagner gibt dem Kellner ein
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