Aus reiner Notwehr
wollen.”
Das Haar war ihm über die Augen gefallen; Amber ließ es spielerisch durch die Finger gleiten und strich es ihm mit dem Anflug eines Lächelns aus dem Gesicht. “Endlich frei. Ein schönes Gefühl, nicht wahr?”
Er zuckte die Achseln. “Schon. Solange niemand von mir Tränen und Trauer erwartet. Danach ist mir nämlich nicht zumute.” Seine Stimme wurde aggressiv. “Dir etwa?”
Sie sah ihn zerstreut an und streichelte gedankenverloren seine Schulter, als suche sie eine Antwort auf seine Frage. “Ich weiß nicht, wie mir zumute ist. Benommen, zum einen, aber im Wesentlichen erleichtert. Also, keine Tränen und Trauer, auch bei mir nicht.” Sie gab ihm einen Klaps auf die Schulter. “So, und jetzt zieh deinen dunkelblauen Anzug an. Der stand dir so gut an dem Abend, als dieser komische Schießsportverein ihm einen Preis verlieh, weil er dabei geholfen hatte, das Gesetz über das Recht, eine verdeckte Waffe zu tragen, durchzudrücken.”
Stephen zögerte kurz, stand dann aber grinsend auf. “Gute Idee, Amber.”
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sah Kate ihre Freundin kopfschüttelnd an. “Also, Amber, das geht jetzt aber ein bisschen weit. Auch wenn ihr beide allen Grund habt, kein gutes Haar an Deke zu lassen – du bist erwachsen, aber der Junge ist erst fünfzehn! Überleg doch mal, wie er sich später vielleicht an die Beerdigung erinnern wird.”
“So wie du dich an das Begräbnis deines Vaters?”
Kate runzelte die Stirn. “Ich streite nicht ab, dass ich nicht mehr viel weiß. Aber wenn, dann wäre es bestimmt nicht so negativ.”
“Ja, weil dein Vater kein solches Schwein war.”
“Wie gesagt, keine Erinnerung. Früher warst du immer diejenige, die Bilder heraufbeschwören konnte aus den Tagen, als wir zwei noch beide Elternteile hatten. Bei mir dagegen nicht die leiseste Vorstellung.”
“Und geschadet hat es dir nicht, oder?”
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Kate hielt den Zeitpunkt noch nicht für gekommen, ihre Freundin über die merkwürdigen Aussetzer und Gedächtnisfragmente der jüngsten Vergangenheit aufzuklären. Dafür war Amber im Augenblick zu sehr aus dem seelischen Gleichgewicht geraten. “Es gibt einen Unterschied zwischen schlechtem Gedächtnis und Erinnerungslücken, Amber.”
Amber seufzte theatralisch auf und schleuderte ihre Sandalen von den Füßen. “Jawohl, mein liebes Mütterlein, ich will auch immer artig sein. Zumindest bis nach den Feierlichkeiten.”
Feierlichkeiten?
Kate erkannte die Sinn- und Zwecklosigkeit jeder weiteren Diskussion mit einer übellaunigen Amber und änderte das Thema. “Such dir etwas Gescheites zum Anziehen für heute Abend aus.”
“Wenn’s sein muss!” Amber stand auf, fasste den Saum ihres T-Shirts und streifte es über den Kopf.
Kate wählte ein pflaumenblaues Leinenkleid aus dem Kleiderschrank, und als sie es ihrer Freundin reichen wollte, fiel ihr ein riesiger, blutunterlaufener Fleck in Ambers Magengegend auf. Amber bemerkte den Blick, versuchte rasch, die Stelle zu verdecken, aber Kate ergriff ihren Arm. “Großer Gott, wie hast du dir denn ein solches Hämatom zugezogen?”, fragte sie ungläubig und merkte, wie sogleich ein Gefühl von Übelkeit und Brechreiz in ihr aufstieg. “Deke?”
“Halb so schlimm. Außerdem: Was macht es noch aus? Von nun an bleibe ich ja von ihm verschont. Dem Himmel sei Dank!” Amber riss wütend eine Kommodenschublade auf.
“Du hast es immer verniedlicht. Deke hat dich misshandelt, nicht wahr? Dieser Schlag da hätte dir die Rippen brechen können!” Kate musste sich auf das Bett setzen und gegen die Übelkeit ankämpfen. “Da ist doch bestimmt mehr gewesen, neulich Abend nach der Show, als nur gegenseitiges Anschreien!”
“Ach, Kate, hatten wir das nicht schon alles? Ich sagte ja, er lief Amok, und als ich merkte, wie geladen er war, habe ich versucht, mich zu verdrücken, aber er zwängte mich in die Ecke, und ich kam nicht mehr weg. Gott sei Dank hatte der Container eine gute Schalldämpfung, denn er brüllte Zeter und Mordio, schüttelte mich, dass mir die Knochen nur so klapperten, stieß mich wie eine Stoffpuppe von einer Ecke in die andere, und dabei muss ich gegen eine Kiste oder so etwas geprallt sein. Er war wie von Sinnen. Zuerst kriegte ich kaum Luft, aber dann habe ich mich berappelt, und ich wusste: bloß nichts sagen, nicht bewegen! Wenn er sich mit diesem verfluchten Zeug vollgepumpt hat, wird er zum Tier, zur
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