Aus reiner Notwehr
auf sie zukam, sie begrüßte und Sam die Krankenakte übergab. “Ich stecke in einem Dilemma, Sam”, sagte er leise. “Der Patient zeigt Symptome eines Myokardialinfarkts, sicher bin ich nicht. Wir haben Morphium gegen die Schmerzen gespritzt, aber sie nehmen dennoch stetig zu. Weiter wollte ich nichts unternehmen; bevor sich nicht ein genaueres Bild ergab.” Er schaute auf die Wanduhr. “Keine Ahnung, wann Vince aus Baton Rouge zurück sein wird. Hier ist das EKG-Blatt.” Er löste eine Büroklammer ab und zog den zusammengefalteten Papierstreifen aus dem Aktenordner.
Kates Angst verstärkte sich, während sie der knappen Zusammenfassung zuhörte und das EKG-Ergebnis in Augenschein nahm. Es war haargenau der gleiche Fall wie bei Carmello: heftige Schmerzen in der Herzgegend, die stark in die linke Schulter und den linken Arm ausstrahlten, kalter Schweiß auf der Stirn. Sie verließ die beiden Männer und eilte zu Leos Bett, ihr Herz pochte in panischer Wucht. Er war blass und atmete flach; sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Wange, und seine Lider flatterten, als er die Augen öffnete. “Kate! Braves Mädchen! Ich wusste, dass du kommst!”
“Leo, ich weiß, du hast Schmerzen. Wir tun sofort etwas dagegen.”
“Danke. Trotzdem wäre ich lieber auf dem Golfplatz.” Er bewegte kaum die Lippen, als er zu lächeln versuchte. “Aber nun bist du da, und endlich kann es losgehen. Ich dachte fast, der junge Assistent da wartet, bis ich so hinüber bin, dass alles zu spät ist und er mich bloß noch mit Morphium vollstopft und zusieht, wie ich den Löffel abgebe.”
“Nicht, solange ich hier bin”, gab sie zurück, und sie meinte es ernst.
“Okay. Dann an die Arbeit, mein Mädchen. Ich will ja noch erleben, wie du Kinder bekommst.”
Sie fühlte einen Stich ins Herz. “Leo, in diesem Hause habe ich keinerlei Privilegien, weißt du.”
“Aber Sam hat sie. Mach ihm deinen Vorschlag, er wird darauf eingehen.”
“Was du benötigst, ist das neue gerinnungslösende Mittel”, stellte sie fest. Zu ihrer eigenen Überraschung merkte sie, wie die Panik nachließ, wie ihr Selbstvertrauen sich zurückmeldete. “Wir brauchen erst gar nicht auf die Blutwerte zu warten, Enzyme hin oder her, ich weiß jetzt Bescheid, und ich werde entsprechend reagieren.”
Urplötzlich erschien Joseph Carmello weit, weit weg – ein Fall aus einer völlig anderen Epoche. Die Entscheidung von damals war unumkehrbar; wahrscheinlich würde sie nie erfahren, ob sie einen Kunstfehler begangen hatte oder nicht. Aber hier und jetzt ging es um Leo, hier und jetzt wusste sie, was zu tun war. Sie schaute in sein liebes, vertrautes Gesicht. Vielleicht hatte es so sein sollen, dass sie eine schmerzliche Erfahrung machen musste, um aus Schaden klug zu werden. Vielleicht hatte es so kommen müssen, damit sie das Leben dieses Mannes retten konnte.
Sam stand mit dem Assistenzarzt am Fuß des Bettes. “Hast du das mitbekommen, Sam?”, sprach sie ihn an. “Es wird direkt intravenös in den Blutkreislauf geträufelt; also, auf geht’s!”
Ohne zu zögern gab Sam die Anweisung für die Medikation an eine Schwester weiter und lächelte Leo zu. “Dauert nicht mehr lange, Sportsfreund! Wir kriegen dich schon wieder hin, und Sonntagmorgen spielst du ‘ne Partie Golf!”
“Ich nehme dich beim Wort”, gab Leo humorvoll zurück, obwohl ihm in Wirklichkeit die Schmerzen furchtbar zusetzen mussten. Das Überwachungsgerät für die lebenswichtigen Funktionen zeigte einen zu hohen Puls an.
“Herzschlag spielt ein wenig verrückt, Leo”, bemerkte Sam und berührte ihn an der Schulter. “Ganz ruhig, der Auflöser ist unterwegs. Entspann dich!”
Kate hielt Leos Hand, und in ihrer ungestümen Ungeduld hätte sie sich fast auf die Schwester gestürzt, die mit dem Mittel hereinkam. “Sofort Infusion, Sam”, befahl sie. “Er ist ziemlich instabil, wir dürfen sein Herz nicht weiter belasten.”
“Alles klar!” Sam brach den Verschluss auf, hängte den Behälter an das Gestell für den Tropf, klopfte kurz auf den Beutel, und schon sickerte die klare Flüssigkeit durch den Schlauch. Ein halbes Dutzend Leute standen mittlerweile um das Bett, und alle schauten besorgt auf den Bildschirm, dann auf den bereits halb bewusstlosen Leo, dessen Gesicht vor Schmerzen grau anlief.
Es waren diese Sekunden, in denen Kate begriff, wie viel der Mann, dessen Hand sie hielt, ihr bedeutete. Alles, aber auch alles hatte Leo für sie getan: kein
Weitere Kostenlose Bücher