Aus reiner Notwehr
einen anderen Ort. Man konnte so zwar immer noch hören, denken, verstehen – aber die Wirklichkeit hielt man sich vom Leibe. Jetzt, während Sam ihr im vertrauten Fachvokabular des Mediziners den Zustand ihrer Mutter und die weitere therapeutische Vorgehensweise erläuterte, stand Kate an einem fernen, imaginären Gestade. Nicht das Todesurteil über ihre Mutter drang an ihr Ohr; sie hörte das sanfte Rauschen der Brandung, sah winzige Wasservögel über den Sandstrand trippeln, beobachtete, wie die Möwen in eleganten Bögen niederstießen auf die blinkende Fläche des Ozeans, sich erneut aufschwangen und in kunstvollem Flug davonsegelten.
“Wie viel Zeit gibst du ihr noch?”
“Kate, es …”
Sie wusste, dass ihre Frage ihn entsetzen musste, wusste aus eigener, leidvoller Erfahrung, wie schwer es war, Angehörige mit der furchtbaren Wahrheit zu konfrontieren. Zu oft hatte sie seine Stelle selbst eingenommen.
“Ich will es wissen, Sam.”
Sie hörte, wie er verlegen auf seinem Stuhl herumrutschte, hörte sein müdes Seufzen. “Das lässt sich nie exakt voraussagen, du weißt das doch!”
Draußen vor dem Fenster sah sie nur noch Trauermyrten. Möwen und Sandläufer waren verschwunden. Sie drehte sich zurück zu Sam. “Immerhin hat sie dir gestattet, mich zu unterrichten. Das ist doch etwas.”
“Ein Hilferuf, Kate. Sie braucht dich, ich wusste es.”
“Wirklich?” Kate stellte ihre Hände dachförmig zusammen, legte sie über ihre bebenden Lippen und schluckte einige Male heftig. Es fiel ihr schwer zu sprechen. “Als Arzt hast du das alles schon öfter durchgemacht. Wie kann ich ihren Zustand erleichtern?”
“Das hast du schon, Kate. Das hast du schon durch deine Heimkehr. Du wohnst mit ihr unter einem Dach. Du teilst dein Leben mit ihr. Ich glaube nicht, dass sie so viel erwartete. Sie hat meiner Ansicht nach ihren Frieden mit sich und der Welt gemacht, und du hast durch dein Hiersein nicht unwesentlich dazu beigetragen.”
“Ihren Frieden …” Kate lachte bitter auf und ließ die Hände flach auf die Schreibtischplatte fallen. “Wenigstens einer von uns beiden findet Frieden.”
“Dir muss doch noch etwas anderes durch den Kopf gegangen sein, bevor ich kam, Kate. Was ist los?”
Bisher hatte sie die Tränen noch zurückhalten können, doch nun schossen sie ihr in die Augen. Rasch bückte sie sich und kramte in einer unteren Schublade nach Handtasche und Autoschlüssel. “Sam, ich muss los. Mutter wartet.” Sie stand auf, er kam ihr entgegen, blieb dicht vor ihr stehen; sie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen, und konzentrierte ihren Blick auf den untersten Knopf seines Polohemds.
“Waren sie wieder da? Die Flashbacks? Diese Filmausschnitte?” Sie wollte es abstreiten, schloss jedoch seufzend die Augen. “Also doch?”, sagte er und nahm ihre Hände. “Wann? Gestern Nacht? Heute?”
“Gestern Abend, bei Leo drüben. Direkt von Angesicht zu Angesicht mit dieser jungen Polizistin. Wir reden ganz normal, und von einem Augenblick zum anderen, tja … Sie muss mich für völlig meschugge gehalten haben.”
“Ach was. Einer Polizistin ist nichts Menschliches fremd.” Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft, bis sie auf der Schreibtischkante saß, nahm ihr Handtasche und Schlüssel ab, ließ beides zu Boden fallen, zog einen Stuhl heran und setzte sich vor sie hin.
“So, und nun raus mit der Sprache! Und wenn ich den Eindruck habe, dass du meschugge bist, dann sage ich’s dir. Versprochen!”
Sie rang sich zu einem steinernen Lächeln durch. Was hatte sie davon, wenn sie es ihm sagte? Vielleicht konnte sie zumindest teilweise dem Geheimnis auf die Spur kommen – nicht, weil sie Sam für einen Fachmann auf diesem Gebiet hielt, sondern weil er der Einzige war, der wusste, was in ihr vorging. Ihre Mutter jedenfalls durfte sie nicht belasten, und auch Amber hatte mit sich selbst genug zu tun.
Sie strich sich das Haar aus der Stirn und gab sich einen Ruck. “Ich befand mich draußen auf der Terrasse, weil niemand bei Ambers Vernehmung zugegen sein durfte, dann taucht diese Pamela auf, und wir kommen ins Quatschen, über Deke Russo, versteht sich, oder zumindest schien es so, denn in der Rückschau kommt es mir vor, als wollte sie mich über die Ehe der Russos aushorchen. Sie hatte ein paar recht unappetitliche Details aufgedeckt, und wie wir so darüber reden, Sam, einfach so aus dem Blauen heraus, höre ich wieder das Rauschen, na, und den Rest kannst du
Weitere Kostenlose Bücher