Aus reiner Notwehr
worden.”
“Aufgrund einer einzigen abweichenden Meinung von Dr. Lincoln und von einer voreingenommenen Person, die mich seit meinem ersten Tag in St. Luke nicht leiden konnte”, stellte Kate fest.
Winslow sammelte die vor ihm liegenden Utensilien ein. “Zu meinem Bedauern dürfen wir einen Vorfall wie diesen nicht einfach ignorieren, Dr. Madison. Es geht auch immer darum, dass wir vor der Öffentlichkeit bloßgestellt werden könnten. Einen Prozess können wir uns nicht leisten.” Aktenordner, Schreibblock und Kates ungeöffneter Umschlag bildeten mittlerweile einen säuberlich aufgeschichteten Stapel.
Kate presste die Finger im Schoß zusammen. “Wie darf ich das verstehen, Dr. Winslow?”, sagte sie ruhig.
“Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Verwaltungsrat Sie vom Dienst im St. Luke Hospital suspendiert hat.”
Sie starrte ihn an. Freitagnacht hatte sie viel ertragen müssen, aber damit hatte sie nicht gerechnet. “Das ist nicht Ihr Ernst”, flüsterte sie.
“Ich darf Ihnen aber auch mitteilen, dass wir, sobald Sie Ihre … hm … Stresserscheinungen überwunden haben, diese Entscheidung möglicherweise überprüfen.”
“Möglicherweise.”
Auf seinen Lippen erschien ein gezwungenes Lächeln. “Natürlich gibt es keine Garantie. Die kann es in Fällen wie diesem nicht geben. Das werden Sie verstehen.”
“Ich bin entlassen?” Ungläubig schaute sie ihn an.
Er stand auf. Das Gespräch war beendet, und vertan war auch die Chance, über ihre berufliche Zukunft zu sprechen. “Selbstverständlich wünschen der Verwaltungsrat und ich Ihnen viel Erfolg in Ihrer nächsten Anstellung, Dr. Madison. Ganz gleich, wo das sein mag.”
Aber nicht im St. Luke.
“Wenden Sie sich an meine Sekretärin, wenn Sie gehen.” Er schob sich langsam um den Schreibtisch herum. “Sie gibt Ihnen noch Ihren letzten Gehaltsscheck.”
Nachdem Sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, pochte ihr Herz so heftig, dass sie völlig leer im Kopf war. Sie stand da, unfähig, einen Gedanken zu fassen, eine Hand an den Hals gepresst, die andere das vertraute Stethoskop umklammernd – das Symbol ihres Berufsstandes, das Werkzeug, welches aller Welt zeigte, dass sie Kranke heilte.
Vorbei. Charles Winslow hatte für ihre Karriere im St. Luke soeben das Todesurteil verkündet, ganz gleich, wie er es zu verbrämen versuchte. Wo sollte sie hin? Was sollte sie machen? Sie kam sich vor wie ein Kind, das die Geborgenheit und Wärme seiner Mutter suchte, um vor Ängsten und Schrecken geschützt zu sein, für die es keinen Namen gab. Aber ein Kind war sie nicht mehr. Sie war erwachsen. Sie war Ärztin!
Und dann wellte tief, tief in ihrer Brust ein Gefühl auf, und sie musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht vor Empörung gellend zu schreien. Wut, Panik, Trauer, alles kam zusammen, betäubte sie, als sie sich in Richtung Ausgang bewegte, als sie verzweifelt diesem Ort zu entfliehen versuchte, bevor sie noch mehr Schande über sich brachte. Großer Gott! Wenn dies das Aus für ihren Beruf bedeutete, dann war auch ihr Leben zu Ende.
3. KAPITEL
E ine Woche später stand Kate nicht ohne eine gewisse Besorgnis vor Dr. Leo Castilles Haus und läutete. Das letzte Stück ihrer Fahrt von Boston nach Louisiana hatte sie in ziemlicher Eile zurückgelegt, aber je näher sie Bayou Blanc gekommen war, desto mehr hatte sich ihre Stimmung durch die Vorfreude auf zu Hause gebessert. Ihre Mutter hatte nicht gerade begeistert geklungen, als sie ihr den Termin für ihren Besuch mitteilte, aber darüber dachte Kate nicht mehr nach. Dennoch hatte sie erwartet, dass Mutter daheim sein würde, und war deshalb betroffen, als sie das große Haus in der Vermilion Lane verwaist vorfand.
Im Haus rührte sich etwas und sie lächelte in Erwartung des Wiedersehens mit Ambers Vater. Aber Amber Russo öffnete selbst die Tür.
“Kate! Was machst du denn schon hier,
chère?
Wir haben erwartet, dass du vom Flughafen aus anrufst! Meine Güte, ist das schön, dich zu sehen!” Sie zog Kate ins Haus und nahm sie in die Arme. “Ich kann’s nicht glauben, dass ich zufällig hier bin, wenn du ankommst, Darlin’. Eine Stunde später wäre ich weg gewesen.”
“Hi, Amber.” Lächelnd ergriff Kate die Hände der Freundin. “Überraschung, was?”
“Komm erst mal rein, Katy-did”, befahl Amber. Kate folgte ihr durch das Foyer und den Eingangsbereich in das weiträumige Wohnzimmer mit den hohen, ausladenden Deckenbalken im hinteren
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