Aus reiner Notwehr
Frau, die sie kalt musterte und sich dann wieder an Sam wandte. “Captain Chastain, Sam. Er wartet schon einige Zeit und er wird ganz schön muffig.”
“Geht noch nicht, Diane. Es sind noch zwei Patienten vor ihm dran, und ich muss auch erst noch mit Kate sprechen.”
Diane Crawford. Sie hatte Sams langjährige Arzthelferin während der Zeit als Assistenzärztin im Charity in New Orleans kennengelernt. Es überraschte sie nicht, dass Sam sie zu einem Wechsel hatte überreden können, als er in Leos Praxis angefangen hatte. Kate vermutete, dass diese Person es schon jahrelang auf Sam abgesehen hatte, und da er jetzt wieder zu haben war, rechnete sie sich vielleicht aus, die nächste Mrs. Delacourt zu werden. Ihr war’s egal, sie konnte ihn haben.
“Wie geht’s, Diane?”, fragte sie höflich.
“Gut”, entgegnete Diane mit eisigem Lächeln. “Lange nicht gesehen!”
Kate schaute Sam an. “Ambrose Chastain? Leos alter Schachpartner? Lieber Himmel, lebt der noch?”
“Alte Seebären sterben nie.”
“Sieht so aus. Er muss über neunzig sein.”
“Nein, achtundachtzig erst.”
“Sam …” Diana wurde etwas gereizt.
“Ich kann auch später kommen, wenn’s dann besser passt”, bot Kate an.
“Nicht nötig.” Sam wandte sich Diane zu. “Sag dem Captain, ich bin in einer halben Stunde bei ihm. Wenn ihm das nicht gefällt, soll Leo mal nach ihm sehen.”
Dianes eisblaue Augen verengten sich; sie zögerte kurz, nahm aber dann mit einer heftigen Bewegung das Krankenblatt vom Wandregal und verschwand rasch wieder im Sprechzimmer.
Sam machte die Tür zu und bot ihr einen Stuhl an, den sie jedoch ablehnte. Er blieb bei der Tür stehen und schaute sie an. Sie ärgerte sich über sich selbst, über den Eindruck, den sie auf ihn machen musste. Sie hatte sich ziemlich lässig angezogen, weil sie es mit dem Besuch bei Leo eilig gehabt hatte, und jetzt fühlte sie sich in ihrem Jeansrock, einem T-Shirt und flachen Sandaletten unwohl und unbehaglich. Auch für ein komplettes Make-up hatte sie keine Zeit gehabt. Auf dem Kopf musste sie furchtbar aussehen; dabei ließ sie sich sonst in Boston in einem todschicken Salon durchstylen. Wie im Dienst trug sie ihr mittellanges Haar zu einer eher strengen Frisur mit Kämmchen zurückgesteckt. Jetzt hätte sie es gerne lockerer und offener gehabt, aber sie unterdrückte diesen Impuls. Es konnte ihr wirklich egal sein, wie Sam ihre Frisur oder ihre Kleidung fand. Was sie von ihm wollte, waren Informationen – von Kollege zu Kollegin –, sonst nichts.
Sam zog eine Augenbraue hoch. “Wahrscheinlich habt ihr in St. Luke nicht oft solche alten Exzentriker wie Chartrain, nehme ich an.”
“Das nicht, aber ich würde jederzeit Drogenabhängige, Opfer von Schießereien oder misshandelte Ehefrauen gegen einen eintauschen.”
Mit düsterem Blick sah er sie an. “Schusswunden haben wir nicht oft in Bayou Blanc, aber Drogenprobleme schon, wie überall. Und misshandelte Ehefrauen kriegen wir jede Menge.”
Kate unterdrückte ein immer wieder heimlich aufsteigendes Gefühl: Wie natürlich und selbstverständlich man mit ihm ins Gespräch kam! Dieses einzigartige Element in ihrer Beziehung war der Hauptgrund dafür gewesen, dass sie zu Beginn, als sie sich kennenlernten, geglaubt hatte, es könnte etwas werden mit ihnen. Ihre damalige Naivität ärgerte sie immer noch gewaltig.
Warum war ihr nicht aufgefallen, dass ihre gemeinsamen Wochenendunternehmungen ausschließlich außerhalb von New Orleans stattfanden? Wieso hatte sie keinen Verdacht geschöpft? Nein, sie fand das toll und schmeichelhaft: hier ein Ausflug nach Mexiko, dort ein Wochenende in einem schicken Badeort an der Küste, dann ein Trip nach Disney World. Einmal hatte er gar eine ganze Woche New York arrangiert. Erst nach Beendigung ihrer Affäre hatte sie gemerkt, dass er sich nicht mit ihr in New Orleans sehen lassen konnte, weil er bereits verheiratet war.
“Ich wusste nicht, dass du hier arbeitest”, sagte sie kühl.
“Spielt das eine Rolle?”
“Normalerweise nicht, aber unter den gegebenen Umständen – ja, schon.”
Er lehnte sich mit einer Schulter gegen die Tür und verschränkte die Arme. “Von welchen Umständen redest du?”
“Von der Krankheit meiner Mutter.”
“Ach, du machst dir Sorgen?”
“Selbstverständlich!”
“Na, wie sagt man doch: besser zu spät als nie!”
Sie bekam mit einem Schlag eiskalte Hände. “Was soll das heißen?”
“Deine Mutter ist seit über zehn
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