Aus reiner Notwehr
verbittert.
Sam seufzte müde. “Mallory, wir können hier nicht …”
Sie lachte verächtlich. “Ach nee! Tatsächlich?”
Sam war hin und her gerissen. Einerseits hätte er sie am liebsten am Schlafittchen gepackt, doch dann wieder überkam ihn der Wunsch, das zu tun, für das er sich, als sie noch klein war, viel zu wenig Zeit genommen hatte: sie einfach in den Arm zu nehmen und an sich zu drücken. Keines von beiden tat er nun. Ein Gefühl, das er zu gut kannte, hielt ihn zurück: Enttäuschung, Angst, zu versagen, und die Furcht vor der Erkenntnis, dass es wohl wirklich zu spät war. Also ging er zum Wagen zurück und öffnete die Heckklappe. “Bring das Rad her!”, befahl er.
“Hast du was an den Ohren? Ich komme nicht mit!” Sie umklammerte die Lenkstange mit beiden Händen. “Ich fahre mit dem Rad nach Hause!” Cody stand unschlüssig da und sah aus dunklen Augen abwechselnd Sam und Mallory an.
Sam stiefelte über den Randstreifen, um sich das Fahrrad zu holen, und Mallory stieg trotzig auf. Für einen Augenblick verlor Sam die Fassung und ergriff seine Tochter grob am Ellbogen. Sie schrie auf und versuchte, ihn abzuschütteln. “Lass mich los!”
“Mallory, es reicht! Muss ich erst …”
“Du Tyrann! Diktator!”, schrie sie. “Ich lasse mir deine Schikanen nicht bieten! Ich hasse dich!”
Sams Zorn löste sich auf und machte einer dumpfen Übelkeit Platz. Ihr Ellbogen fühlte sich zerbrechlich wie eine Vogelschwinge an. Ganz plötzlich tauchten in ihm Erinnerungsfetzen auf an die Zeit, als sie noch winzig klein war: wie er spät abends vom Dienst nach Hause gekommen war, wie sie schon schlief, die Ärmchen fest um ihr Kuscheltier, und er ihren kleinen Ellbogen zudeckte. Manchmal hatte sie ihn im Halbschlaf angeblinzelt, nach ihm gegriffen und ihm wortlos, müde, ein Schmetterlingsküsschen auf die Wange gehaucht. Was war nur geschehen? Wie war sie ihm entglitten? Wie hatte es so weit kommen können?
Er ließ ihren Arm los. Mallory stieß ihm aufgebracht das Rad zu und stieg in den Range Rover. Mit Codys Hilfe verstaute er das Fahrrad, schloss die Heckklappe, fuhr an und sah noch im Rückspiegel das verdatterte Gesicht des Jungen.
“Mallory, ich …”
Sie wandte ihm mit einer jähen Bewegung das Gesicht zu, und ihre Haare flogen. “Bist du jetzt zufrieden? Wo du mich so vor Cody blamiert hast?”
“Du kannst nicht einfach machen, was du willst, Mallory. Ob du’s magst oder nicht, als dein Vater und Erziehungsberechtigter muss ich meiner Aufsichtspflicht genügen.”
Sie guckte finster geradeaus. “Aber erst seit Mom tot ist, fällt dir plötzlich auf, dass ich auch noch da bin! Wo warst du denn, als ich sechs oder acht oder zehn war, Dad?”
“Ich gebe ja zu, mein Job hat mich sehr eingespannt, aber …”
“Kann man wohl sagen.” Ihre Stimme klang sarkastisch.
“Aber wir können doch trotzdem eine Familie sein, besser aufeinander eingehen, uns nicht dauernd streiten!”
“Dad, lass es, es ist zu spät.”
Sam wurde fast übel. “Mally, für einen Neuanfang ist es nie zu spät.”
“Warum versaust du mir dann mein Leben?” Ihre blauen Augen glänzten feucht, als sie ihn anblitzte. “Ich bin nicht deine Sklavin! Ich halte mich an keine Regeln, bei denen ich nur ‘ne Befehlsempfängerin bin!”
“Das haben wir doch alles schon besprochen, Mallory”, sagte er erschöpft.
“Ja,
du! Du
bestimmst! Ich darf nur gehorchen!”
Sam hielt das Lenkrad fester. Dass ihm die Erziehung seiner Tochter solche Probleme bereitete, machte ihn frustriert und hilflos, zumal er allein war. Sicher, Elaine hatte in den letzten fünf Jahren, als es mit ihr zu Ende ging, von der Realität nichts mehr mitbekommen, aber es hatte Mallory doch sehr geholfen, dass sie eine Mutter besaß – auch wenn diese nur eine Art Phantom war. Erst kurz vor ihrem Tod war es Sam gelungen, sich von den Fesseln seines Berufes etwas zu befreien. Aber vielleicht war es inzwischen tatsächlich schon zu spät.
Mallory würde ihm jetzt ohnehin nicht zuhören. Sie starrte düster durch die Seitenscheibe, die Hände teilnahmslos auf dem Schoß, als er in die Garageneinfahrt bog. Am Handgelenk trug sie das schmale Goldkettchen, das er Elaine zum Valentinstag geschenkt hatte. Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er jetzt einfach ihre Hände nähme und ihr sagte, wie leid es ihm tat, dass all die Jahre sein Beruf Vorrang vor seinen Verpflichtungen als Vater und Ehemann hatte, dass er während
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