Aus reiner Notwehr
schon nicht mehr klar denken. Und mit dir hatte es schon gar nichts zu tun.”
Seine Tochter schniefte, wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute auf ihre Hände. “Dad, das bringt alles nichts”, sagte sie leise. “Du kannst so tun, als wär’s alles nicht so schlimm, so wie die Leute auf der Beerdigung, aber ändern tut’s doch nichts.”
Sie öffnete die Wagentür, drehte sich dann aber noch einmal zu ihm um. “Tut mir leid, das mit vorhin. War blöd von mir … Ich hätte zu Hause bleiben müssen, aber ich … ach, ich weiß auch nicht! Es ist ätzend, allein zu sein, und langweilig und …” Sie zuckte mit den Schultern. “Ich fühle mich dann so einsam.”
Er war erleichtert, dass sie das Thema wechselte, und zwang sich zu einem Lächeln. “Halb so wild.” Was Einsamkeit war, brauchte ihm niemand zu erzählen. “Und nur Mary zum Quatschen – das ist auch nicht das Wahre, was?” Mary Morvant war die ältliche Haushälterin, die schon seit Urzeiten bei ihnen arbeitete. Inzwischen war sie mehr Familienmitglied denn Angestellte, besaß aber wenig Sinn für endlose Telefongespräche und laute Musik. Sam strich seiner Tochter über den Scheitel. “Ich war wohl auch ein bisschen grob zu dir. Weißt du was? Wir blasen den Hausarrest ab, du rufst Jill und Rachel an, sagst ihnen, sie sollen rüberkommen, und wir bestellen uns ‘ne Pizza. Wie wär’s?”
Mallory dachte kurz nach und nickte. “Können wir machen, Dad. Cool!” Sie stieg aus und ging über den Verbindungsweg zur Vordertreppe. Sam schaute ihr bekümmert nach, und als sie im Haus verschwunden war, war er drauf und dran, zum Krankenhaus zurückzufahren. Patienten gab es genug, nach denen er schauen konnte. Für den nächsten Morgen stand eine Operation an, eine Schilddrüsenentfernung bei einer sechsundvierzigjährigen Frau, die furchtbare Angst hatte, dass der entdeckte Tumor bösartig sein könnte, und die seinen Besuch sicher sehr beruhigend finden würde. Die Zeit würde im Nu vergehen; er würde todmüde nach Hause kommen, ins Bett fallen und sofort schlafen.
Jahrelang hatte es für ihn nichts Wichtigeres gegeben als seinen Beruf – einen Beruf, bei dem es häufig um Leben oder Tod ging. Persönliche Probleme wie Elaines Krankheit, ihr Selbstmordversuch, seine Tochter und ihre Bedürfnisse oder sein Verhältnis mit Kate Madison kamen erst an zweiter Stelle, mit gehörigem Abstand zur Dramatik seiner ärztlichen Pflichten. Das war seine Art der Vergangenheitsbewältigung gewesen.
Und jetzt hatte er die Bescherung.
Er rieb sich seufzend über das Gesicht. Sich zum Krankenhaus zu verdrücken, das war nicht mehr drin. Mallory machte eine schlimme Phase durch, aber er war überzeugt, sie konnten es noch schaffen, wenn er sich endlich als Vater ernsthaft Mühe geben würde. Das war seine größte Sorge nicht; vielmehr machte ihm Kate Madison Kopfzerbrechen.
Den ganzen Morgen hatte er sich in Gedanken mit ihr beschäftigt, und er war immer noch konsterniert und fassungslos über Leos unerhörtes Angebot. Er sollte mit ihr zusammenarbeiten? Den ganzen Tag? Bei ihrer gemeinsamen Geschichte erschien ihm das gänzlich ausgeschlossen, auch wenn es ihm vorkam, als wäre es eine Ewigkeit her. Kaum zu glauben, dass er für die Zeit nach dem Horror seiner Ehe eine gemeinsame Zukunft mit ihr für möglich gehalten hatte. Damals war er ein romantischer Tor gewesen.
Er stieg aus und warf die Wagentür zu. Wenn Leo erwartete, dass er am Eingang stehen und “Herzlich Willkommen!” rufen würde – nicht mit ihm! Er konnte es einfach nicht. Mit tief gefurchter Stirn hob er Mallorys Rad aus dem Wagen. Warum Kate sich ausgerechnet in Bayou Blanc niederlassen wollte, ging ihm nicht in den Kopf. Unter normalen Umständen räumte ein Arzt seinen Posten in diesen Elite-Krankenhäusern an der Ostküste nur unter Anwendung körperlicher Gewalt, und bei einer Klasse-Medizinerin wie Kate vermochte er sich dies ganz und gar nicht vorzustellen. Er setzte das Rad auf dem Bürgersteig ab und schloss die Heckklappe. Vielleicht hatte es mit der Scheidung zu tun.
Aber neugierig war er doch. Leo hatte es immer wieder mal erwähnt, aber der zunehmend schlechter werdende Zustand seiner Frau hatte ihn vollständig in Anspruch genommen. Dann die Beerdigung, dann Mallory und ihre Probleme … Manchmal hatte er das Gefühl, das Schicksal oder der liebe Gott hätte sich von ihm abgewandt.
Er drückte auf die Fernbedienung, das Garagentor schloss sich, und auf
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