Aus reiner Notwehr
dem Weg zur Haustür drehte er sich noch einmal um. Als er beschlossen hatte, nach Bayou Blanc zu ziehen, war ihm bewusst gewesen, dass Kate hier in der Nähe, unten in der Vermilion Lane, aufgewachsen war. Möglicherweise wohnte sie jetzt wieder dort bei ihrer Mutter. War ihre Sorge um Victoria echt? Er hätte nie geglaubt, dass er einmal so wenig schmeichelhafte Gedanken für Kate hegen könnte. Da hatte er allerdings ihre Rachsucht noch nicht am eigenen Leib erfahren. Der Gedanke daran verdüsterte seine Augen erneut, und er nahm die Treppenstufen mit kurzen, forschen Schritten. Nein. Kates Mitarbeit in der Praxis würde nur Probleme mit sich bringen, und die konnte er nicht gebrauchen. Dieser Abschnitt in seinem Leben war ein für alle Mal vorbei.
8. KAPITEL
D as Gute an einer Kleinstadt war, dass man als Frau auch nach Einbruch der Dunkelheit noch ausgehen konnte. Kate schnürte die Laufschuhe zu, warf die Sporttasche auf den Beifahrersitz, schloss die Wagentür und begann mit ihren Dehnübungen. Vor ihr lag der Jogging-Kurs von Bayou Blanc, angelegt von um das öffentliche Wohl bemühten Sponsoren, ein etwa drei Meter breiter Weg, der sich durch ein Eichenwäldchen schlängelte. Flutlicht-Spots an den Ästen unterstrichen die Schönheit und Kraft der uralten Bäume, die tagsüber willkommenen Schatten spendeten.
Nur zwanzig Minuten später hatte sie das Gefühl, als atme sie in einer dicken Nebelwolke. Bei der drückenden Luftfeuchtigkeit machte sie bei der Hälfte ihrer üblichen Distanz schlapp, sank japsend und schnaufend und mit geschlossenen Augen auf eine Bank unter einer der Eichen und malte sich das frische, kühle Bostoner Klima aus.
“Das ist aber kein richtiges Auslaufen!”
Erschreckt öffnete sie die Augen. Zum zweiten Mal an diesem Tag stand ihr Sam Delacourt gegenüber, diesmal schweißnass, grinsend, in Shorts und einem durchgeschwitzten T-Shirt, das seine muskulösen Oberarme und seinen flachen Bauch eindrucksvoll betonte. Hitze und Luftfeuchtigkeit schienen ihm nichts auszumachen, ja, ihn geradezu zu erfrischen. Sein Atem ging gleichmäßig und stoßweise, und er wirkte ausgesprochen männlich und kraftvoll – mehr, als ihr eigentlich recht war.
“Ich laufe nicht aus. Ich zerlaufe.” Kate strich sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie war so fertig, sie konnte nicht einmal aufstehen. Sam ließ sich in einer sehr maskulinen Duftwolke aus gesunder Körperwärme und Fitness neben ihr nieder und grinste. “Die Teilnehmer an eurem Boston-Marathon würden hier nicht lange durchhalten. Eine Stunde, wenn’s hoch kommt!”
“Schon möglich. Erst die Luftfeuchtigkeit, und die Hitze gibt ihnen den Rest.”
Er nahm sein weißes Stirnband ab und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, und Kate wandte ihren Blick schnell ab. Sie hatte nicht vor, irgendetwas an ihm anziehend zu finden. “Bei der Olympiade in Atlanta haben auch viele Favoriten versagt; man hätte vermuten können, es wäre Hitze-Sabotage gewesen. Jetzt ist mir alles klar!”
Sam schaute sie schräg von der Seite an. “Aber ein Meter vierzig Schnee sind auch keine verlockende Alternative.”
“Nicht ganz so hoch.” Sie nahm einen Schluck aus einer Wasserflasche. “Aber nah dran. Ich kann mich erinnern, wir hatten mal einen Hochhausbrand im Februar und brauchten jeden Mann in der Notaufnahme, aber es herrschte ein solcher Schneesturm, dass wir einen Schneepflug losschicken mussten, um die Verstärkung zu holen.”
Er nickte, und sein Gesicht wurde wieder ernst. “Ein Hochhausbrand. Das muss schlimm sein. Warum bist du eigentlich nach Boston gegangen?”
“Ich wollte möglichst weit weg von hier.”
“Du meinst, möglichst weit weg von
mir?”
“Genau. So, ich glaube, ich hänge noch eine Runde dran.” Sie stand auf und machte einige weitere Dehnübungen. “Ich laufe sonst immer acht Kilometer.”
Sam erhob sich ebenfalls. “Kate, wahrscheinlich kann ich dir nicht richtig erklären, warum ich …”
“Versuch’s erst gar nicht.” Sie zog einen Schnürsenkel fest. “Nur eine schäbige kleine Episode in unserem Leben. Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber für mich ist das vorbei. Wir brauchen kein Wort darüber zu verlieren.”
“Und du glaubst, das geht so einfach?”
“Für mich auf jeden Fall.”
Er nickte einem älteren Ehepaar zu, das auf einer Walking-Runde vorbeikam. “Ich wollte dir nicht wehtun, Kate.”
“Mensch, Sam, hör auf!” Sie zog ihre Laufsöckchen hoch und griff
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