Aus reiner Notwehr
konnte. Leo, der an der Bar mit Nick plauderte, sah sie und verstand sie ohne Worte; sie wusste, dass er ihr folgen würde, ließ sich auf ein Sofa sinken und warf einen Blick auf die antike Kaminuhr. Ein paar Minuten noch, dann war es Zeit zu gehen.
Leo erschien, um ihr etwas Gesellschaft zu leisten, und es fiel ihr schwer, sich einzugestehen, dass er stark gealtert war und es sich nicht verheimlichen ließ. Es hatte Zeiten gegeben, da stand er morgens um fünf auf, zog bis zehn drei Operationen durch, fertigte ein ganzes Wartezimmer voller Patienten ab und spielte danach noch eine Neuner-Runde Golf. Und damit nicht genug: In dieser Ausdauer war sie ihm sogar ebenbürtig gewesen. Es war einmal.
Er hätte wahrscheinlich ihre Hand gehalten, wären sie allein gewesen. So saß er nur dicht neben ihr, genauso müde wie sie, allerdings noch in der Lage, Geplapper und Gelächter einer Party länger auszuhalten. “Ich brauchte ein wenig Ruhe”, sagte Victoria und massierte sich den Nacken. “Ambers Partys sind wirklich bezaubernd, aber nach einiger Zeit wird mir der Geräuschpegel doch ein bisschen viel.” Sie tätschelte seine Hand, und er ergriff die ihre und drückte sie liebevoll. “Aber auf keinen Fall über diese vermaledeite Krankheit sprechen, ja?” Ihr Kopf sank gegen die Sofalehne. “Ich bin so froh, dass Kate wieder hier ist.”
“Und ich erst!” Leo lächelte. “Ich habe sie endlich in meiner Praxis.”
“Und was sagt Sam dazu? Ist er genauso begeistert? Oder hat er seine Zweifel?”
“Wenn, dann werden sie ihm vergehen. Außerdem kennt er sie ja aus ihrer Zeit als Assistenzärztin. Warum fragst du? Hat Kate etwas verlauten lassen?”
“Nein. Außerdem würde sie mich nicht ins Vertrauen ziehen.”
Leo entging der traurige Unterton nicht. “Vicky, gib ihr Zeit. Sieh mal, sie ist hierher gekommen, obwohl nahezu jede Klinik sie mit Kusshand genommen hätte. Sie wohnt sogar bei dir. Nimm’s, wie es ist, und freu dich darüber!”
“Leo, glaubst du, dass etwas nicht stimmt mit ihr?”
“Victoria, diese Unterhaltung gefällt mir nicht. Du redest dir Sorgen ein. Was ist daran Besonderes, wenn eine Unfallärztin nach fünf Jahren wechseln will? Kate schafft das, sie ist intelligent, eine starke Persönlichkeit, die ihren Weg gehen wird. Ich mache mir um sie keine Sorgen – dazu ist sie zu sehr wie du. Aber ich verspreche dir, ich passe auf sie auf, und wenn sie mich braucht, bin ich da.” Er nahm ihre zarte, zerbrechliche Hand und spürte tief im Innern die Angst, die stets mit dem Gedanken an ihre Krankheit in ihm aufstieg.
“Unsere Töchter mögen erwachsen sein, aber ich habe manchmal das Gefühl, dass sie nicht glücklich sind. Beide nicht. Mir ist aufgefallen, wie viel Deke heute Abend getrunken hat. Wenn er sich bei einem Haus voller Gäste so wenig in der Gewalt hat, wie verhält er sich dann wohl, wenn niemand da ist? Mich graust es, wenn ich es mir vorstelle.”
Plötzlich flog die Haustür auf, und auf der Schwelle stand Stephen. “Schnell!”, schrie er aufgeregt. “Es muss schnell jemand kommen! Cody ist schwer verletzt!” Er hätte beinahe Leo und Victoria in seiner Panik nicht bemerkt. “Dr. Leo, komm, schnell! Cody … er hat mit dem Revolver … er ist angeschossen!”
Leo ergriff den Jungen am Arm. “Wo? Wo ist er?”
“Bei Mallory zu Hause. Sie hat schon den Notarzt angerufen, aber es muss sofort etwas passieren!”
“Beruhige dich, mein Junge. Victoria, sag Sam und Kate Bescheid, und Nick auch. Sie sollen zum Haus der Yeagers kommen. Ich gehe schon vor.”
Victoria war bereits unterwegs. Einige Gäste hatten den Zwischenfall bemerkt und sprachen leise miteinander. Amber riss die Terrassentür auf und rief Kate und Sam herein.
“Kate, ein Unfall”, sagte Victoria. “Leo lässt euch bestellen, ihr sollt umgehend zum Haus der Yeagers kommen.”
“Was für ein Unfall?” Nick drückte sich an Amber vorbei, als Sam und Kate zur Tür eilten. Er sah den Jungen und stürzte auf ihn zu. “Sag schon, verdammt! Was ist passiert?”
Stephen liefen die Tränen über die Wangen, und er zitterte am ganzen Körper.” Es t… tut mir so schrecklich leid!”, schluchzte er. “Wir w… wollten n… nur mal Ihren R… Revolver ansehen, Mr. Santana, u… und plötzlich …”
“Das darf doch nicht wahr sein!” Mit einem Satz war Nick an der Haustür, nahm die Treppenstufen im Sprung und rannte los. Das Herz hämmerte ihm vor Entsetzen wie ein Maschinengewehr, und er
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