Aus reiner Notwehr
vermochte kaum klar zu denken. Sein Junge! Mit seiner eigenen Waffe!
Kate und Leo erreichten das Haus gleichzeitig. Leo keuchte und schnaufte und presste eine Hand auf die Brust, als sie durch die Tür stürmten. “Mallory!”, rief er. “Wo bist du?”
“Hier hinten!” Ihre Stimme kam aus dem hinteren Teil des Hauses. “Kommen Sie schnell!”
Kate versuchte, der Stimme zu folgen. Flur, Wohnzimmer, durch die Küche in eine kleine Frühstücksnische. Ihr Herz machte einen Sprung – überall Blut! Ein halbwüchsiger Junge, Nicks Sohn, lag auf dem Fußboden, daneben ein Mädchen, das mit dem Mute der Verzweiflung versuchte, die Blutung am Hals des Jungen zu stillen. Kate schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hilf mir, das Richtige zu tun! Ein Revolver, blauschwarz glänzend, tückisch, tödlich, lag neben dem Jungen.
Wilde Panik stand in Mallorys Augen. “Gott sei Dank, dass Sie da sind! Ich habe versucht, die Wunde abzudrücken, das war doch richtig, oder? Ich habe sämtliche Geschirrtücher aus der Schublade genommen, aber …”
“Lass mal”, sagte Kate und riss ihren Blick von der Waffe los. Ein Summen hatte in ihrem Schädel eingesetzt. Lichtblitze zuckten. Gallenflüssigkeit kam ihr hoch. Sie musste schlucken. Wie oft hatte sie diese Szene durchgespielt?
Sie hob das blutdurchtränkte Tuch und starrte auf die Wunde. Aus einer gähnenden Öffnung im Hals quoll Blut; keine Zeit, lange nach dem Geschoss zu tasten, Blutstillung, den tödlichen Blutverlust zum Stehen bringen! Ihre Finger erforschten die Wunde, pressten dann ein frisches Tuch darauf. Ihre blutüberströmten Hände zitterten, Schwindel erfasste sie.
Bitte, lieber Gott, mach, dass es nicht wieder von vorn losgeht!
Wo blieb Sam nur?
“Mein Gott, gut, dass du hier bist!” Leo hockte neben ihr. “Wir haben doch niemanden mit Schusswundenerfahrung!”
“Der Notarztwagen muss her!” Kate fühlte, wie der Puls des Jungen unter ihren Fingern schwächer wurde. Mallory rief ihr zu, dass sie 911 alarmiert hatte, und in diesem Moment stürzte Nick herein. Blankes Entsetzen stand ihm bei Codys Anblick im Gesicht; flehend sah er Kate an. “Kate, Kate, ist es schlimm? Lass ihn nicht sterben, Kate!”
Leo schob Codys Augenlider hoch. “Lichtstarr, Kate”, murmelte er, und ihre Blicke trafen sich. “Sieht nicht gut aus.”
Kate schloss die Augen. “Ich … Ich … schaff’s nicht. Ich kann’s nicht.” Hatte sie die Worte ausgesprochen oder nur gedacht? Sie schaute ihre Hände an. Was musste sie tun? Sie konnte Nicks Jungen hier nicht einfach verbluten lassen.
“Durchhalten, Junge!”, flüsterte Leo und fühlte nach Codys Puls. Nick küsste seinen Sohn auf den Scheitel. “Cody, mein Junge! Ich bin’s, Dad! Ganz ruhig! Ganz ruhig!”
“Er muss intubiert werden.” Verzweifelt versuchte Kate, gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen, doch sie war wie gelähmt. Hilflos, starr.
“Was ist hier los?”
Sam war neben ihr! Sams Stimme, scharf, fordernd, befehlend, und die Erleichterung raubte ihr fast die Sinne. Er nahm etwas aus seiner Arzttasche, aber ein strahlend heller Fleck erschien in ihrem Blickfeld, blendete sie. Das Summen in ihrem Schädel steigerte sich zu einem tosenden Orkan.
Wie blind tastete sie nach ihm, führte seine Hand zu dem Druckverband auf der Wunde. “Bitte … übernimm du.” Sie kam mühsam hoch, taumelte, schob sich an ihm vorbei, schwankte und stieß gegen Leo, fand die Tür und riss sie auf, keuchend, würgend. Wie von Sinnen stolperte sie über die Terrasse, um die Hausecke; dann fiel sie stöhnend auf die Knie und übergab sich.
16. KAPITEL
S tephen hockte auf einem harten Holzstuhl im Besucherwarteraum des Krankenhauses, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und fummelte nervös an einer zerdrückten Coladose herum. Sein Inneres war in hellstem Aufruhr, Tausende von Gedanken purzelten wild durcheinander; ihm war, als hätte er einen Tritt in die Magengrube bekommen. Um ein Haar hätte er ihn umgebracht, ihn, Cody, seinen Kumpel, und nur, weil sie mit dieser dämlichen Kanone herumgespielt hatten. Plötzlich, wumm!, war das Ding losgegangen. Dabei kannte er sich mit Waffen aus, zum Kuckuck, schon seit Kindertagen. Zu seinen frühesten Erinnerungen zählte, wie Deke seine Pistolen und Revolver zerlegte und reinigte, und wie er, Stephen, ihm beim Zusammensetzen zuschauen durfte; danach ging’s auf den Schießstand, wo er so lange ballern musste, bis er endlich das Ziel traf und sein alter Herr
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