Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
letzter Zeit nicht mehr so oft, sitze ich als Zuschauer in der Scala. Dann heißt es, der Tenor sei krank. Auf dem Programm steht eine Oper, die ich noch nie gesungen habe, und mit einem Mal ruft man mich: ›José, komm rauf auf die Bühne!‹ Ich habe das Werk zwar schon gehört und mich auch mit der Partie beschäftigt, sie aber noch nie öffentlich gesungen. Dann stehe ich auf der Bühne und soll anfangen. Niemand kann sich vorstellen, wie ich dabei leide. Ich singe und tue, was ich kann … und dann sage ich mir: Was für ein Glück, jetzt kommt eine Stelle, die ich tatsächlich kann.«
»Was würden Sie als den schönsten Augenblick Ihres Lebens bezeichnen? «
»Ich trenne scharf zwischen dem Privaten und dem Beruflichen. Im Beruf hatte ich viele ›schönste Augenblicke‹, und manche davon waren begeisternd: die Jahre, in denen ich unter Karajan in Salzburg gesungen habe, meine Auftritte in der Scala, an der Wiener Staatsoper oder der Covent Garden Opera in London … All das waren außerordentliche Momente. Im privaten Bereich die Geburt meiner Kinder und – kaum wage ich es zu sagen – mehr noch die meiner Enkel.«
»Und der entsetzlichste?«
»Dass meine Mutter gestorben ist, als ich erst achtzehn Jahre alt war. Sie war buchstäblich die Stütze der Familie. Mir ist durchaus klar, dass alle Mütter einzigartig sind, aber sie war eine wahrhaft außergewöhnliche Frau. Sie besaß einen Weitblick, der es ihr gestattete – ohne dass jemand hätte sagen können, wie –, vorauszusehen, was geschehen würde. Sie hat stets das richtige Wort gefunden und immer die richtige Entscheidung getroffen, sowohl für sich selbst wie auch für die Menschen, die sie liebte.«
»Können Sie gut allein sein? Könnten Sie ohne einen Menschen an Ihrer Seite leben?«
»Ich habe einige Jahre ohne eine Frau an meiner Seite gelebt. Das bedeutet nicht, dass ich das für eine ideale Situation halte, aber … im Laufe der Jahre lernt man, allein zu sein, und erkennt, dass man sein Leben ausschließlich mit einem anderen Menschen teilen kann, der imstande ist, einem Liebe, Freundschaft und Verständnis entgegenzubringen.«
»Für welches Land würden Sie sich entscheiden, wenn Sie irgendwohin auswandern müssten?«
»Für Italien. Wegen all dessen, was es für die Kunst, die Kultur und die Oper bedeutet, und wegen der Italiener!«
»Nennen Sie mir ein Buch, das Sie auf die eine oder andere Weise beeinflusst hat.«
»Die Antwort auf diese Frage fällt mir schwer. Das ist etwa so, als wenn man mich nach meiner Lieblingsoper fragen wollte. Es hängt ganz davon ab, wann ich es gelesen habe. Beispielsweise gefällt mir Die Liebe in den Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez ausnehmend. Damals war ich sehr verliebt, und die Beziehungen der drei Hauptpersonen haben mich tief bewegt. Aber ebenso
könnte ich Der Fremde von Albert Camus nennen, ein Werk, das mich zu einer anderen Zeit wegen seiner Analyse der Conditio humana positiv beeinflusst hat.«
»Gibt es in Ihrem Leben so etwas wie eine Leitmusik?«
»Am ehesten Rachmaninows zweites Klavierkonzert. Ich habe es mir während meiner Krankheit oft angehört, und eines Tages hat es mir eine ungewöhnliche Kraft vermittelt, die mir geholfen hat, diese Heimsuchung zu überstehen.«
»Sie haben gesagt, dass Sie keine Lieblingsoper nennen können, aber bei verschiedenen Gelegenheiten durchblicken lassen, dass Sie eine gewisse Vorliebe für Carmen haben.«
» Carmen gehört zu den Opern, die mich am tiefsten angerührt haben.Es wäre aber ungerecht, in diesem Zusammenhang La Bohème, Ein Maskenball, Werther, André Chénier unerwähnt zu lassen … Plácido Domingo hat in einem Interview gesagt, das wir gemeinsam gegeben haben: ›Ich kann Ihnen ebenso wenig meine Lieblingsoper nennen, wie ich Ihnen sagen kann, welches meiner Kinder ich am meisten liebe.‹ Auf jeden Fall ist klar, dass es eine Reihe von Titeln gibt, mit denen sich ein Sänger am ehesten identifiziert.«
»Wann haben Sie zum letzten Mal geweint?«
»Ich bin kein Mensch, der weint, wenn ›es sich so gehört‹. Bisweilen habe ich in letzter Zeit ohne Zeugen geweint, sei es aus persönlichen Gründen oder weil man mir von schweren Lebensumständen mir nahestehender Menschen berichtet hat. Genau genommen weine ich wenig. Das ist eigentlich schade, weil es doch heißt, dass Frauen Männer mögen, die weinen. Allerdings bedeutet das nicht, dass ich gefühllos wäre. Das ist ein völlig anderes
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