Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Direktor des Liceu, um zu sehen, ob eine szenische Aufführung möglich sei, und dieser hat die Anregung schließlich aufgenommen. Es handelt sich um eines der wenigen Male, dass diese Oper auf der Bühne gezeigt worden ist, und zwar im Rahmen des sogenannten De-Falla-Festivals, bei dem außer diesem Werk des Komponisten auch das lyrische Drama Das kurze Leben und das Ballett Der Dreispitz aufgeführt wurden.
Offen gestanden war ich begeistert, mich zum Singen verkleiden zu dürfen, denn so stellte ich mir Oper vor. Meine Rolle verlangte, dass ich die Handlung erklärte. Ich erinnere mich, dass ich einen grauen Samtanzug, ein weißes Hemd und helle Schuhe trug und ein Stöckchen in der Hand hielt, mit dem ich auf die einzelnen Marionetten zu zeigen hatte. Außer Ausensi sang der in Barcelona berühmte Tenor Cayetano Renom, insgesamt also eine beachtliche Besetzung. Es gab zwei Vorstellungen, und beide waren ein Erfolg. Das Publikum klatschte begeistert, und Ausensi nahm mich zum Schluss an der Hand, damit wir uns gemeinsam verbeugen konnten.
Ich bekam von allen Seiten Komplimente: »Sehr gut, mein Junge, das hast du wunderbar gemacht.« Ich war hochzufrieden. Genau genommen war die Sache für mich so etwas wie eine Abschlussfeier am Schuljahresende.
Die Inszenierung hatte mich beeindruckt, doch sollte es noch einige Jahre dauern, bis mir die Bedeutung des Ganzen vollständig aufging. Wäre mir damals klar gewesen, welche Verantwortung bei der Verkörperung dieser Rolle auf mir ruhte, hätten mir wahrscheinlich die Beine gezittert, denn schließlich war ich noch ein Kind. Mit diesem Auftritt begann für mich ein neuer Weg. Allerdings wusste ich nicht, wohin er mich führen würde, denn die Gesangsstimme eines Jungen und die eines Mannes haben nicht das Geringste miteinander zu tun. Wenn in der Pubertät mit dreizehn oder vierzehn Jahren der Stimmbruch einsetzt, kann niemand voraussagen, wie sich die Stimme entwickeln wird. Aus meiner Sopranstimme konnte die eines Tenors werden – oder auch nicht. Ich war aber förmlich von der Vorstellung besessen, nicht einfach nur Opernsänger zu werden, sondern ich wollte unbedingt ein Tenor sein, denn ihm räumen die meisten Libretti die Heldenrolle ein. Vermutlich wollte ich es deshalb um jeden Preis. Ich hatte großes Glück, dass sich meine Stimme wunschgemäß und, wie ich meine, auch gut entwickelt hat. Ich habe die Tenorstimme immer als etwas irgendwo zwischen dem Heranwachsenden und dem Erwachsenen betrachtet – sie ist sehr männlich, hat aber einen jugendlichen Anstrich.
In der Nachweihnachtszeit jenes Jahres hat Carreras am Liceu sein erstes Geld verdient: fünfhundert Peseten. Die Vorstellungen hatten am 3. und 5. Januar 1958 stattgefunden, und als er am Morgen des Dreikönigstags wach wurde, erlebte er eine neue Freude: Sein Vater schenkte ihm eine elektrische Eisenbahn, deren Schienen er während der Nacht geduldig im Wohnzimmer aufgebaut hatte. Den Zug mit seinen vier Waggons besitzt Carreras heute noch, und im Laufe der Jahre wurde die Anlage immer mehr erweitert. Seinen Vater, der gegenüber dem Bahnhof von Cassà de la Selva
in der Provinz Gerona zur Welt gekommen war, begeisterten Eisenbahnen so sehr, dass er, bevor die Familie nach Argentinien gegangen war, alljährlich eine winzige Spielzeugeisenbahn in die Weihnachtskrippe geschmuggelt hatte, wenn sie im Erdgeschoss des Hauses aufgebaut wurde – ein Anachronismus, der ihn in keiner Weise zu stören schien.
Josés Auftritt am Liceu brachte es mit sich, dass er zum ersten Mal interviewt wurde, wobei er dem Lokalreporter gestand, er würde lieber zehnmal auf der Opernbühne singen als eine einzige Prüfung in der Schule ablegen. Nach jenem denkwürdigen Auftritt riet Maestro Iturbi den Eltern, sich um die musikalische Ausbildung des Jungen zu kümmern, da José für den Gesang begabt sei. Tatsächlich bot ihm die Leitung des Liceu gleich nach diesem Debüt für die nächste Produktion des Theaters erneut die Rolle eines Jungen an, diesmal bei der Uraufführung der Oper Amunt von Joan Altisent. Hier sollte er den Sohn des Hauptdarstellers verkörpern, eines Mannes, der von dem Wunsch besessen ist, zu fliegen. Darauf verweist der katalanische Titel des Werks, der so viel bedeutet wie »aufwärts«. Da José auch diese Probe bravourös bestand, bekam er erneut Gelegenheit zu singen, und zwar in Puccinis Oper La Bohème . Diese Rolle einzustudieren kostete ihn nicht viel Mühe, denn sie bestand lediglich aus
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