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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Carreras
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Salvador, der eine gute Baritonstimme besaß und einmal gesagt hatte, er wäre gern Sänger geworden, erkannt, dass ich eine ernst zu nehmende musikalische Begabung besaß. Er hat mir oft etwas über Sänger und Komponisten wie auch über Opernaufführungen erzählt, die er im Gran Teatre del Liceu und im Teatre Tivoli miterlebt hatte. Doch als Erste war auf jeden Fall meine Mutter überzeugt, dass ich eines Tages Opernsänger werden könnte, weshalb sie sich entschlossen hatte, eine ihrer Kundinnen darauf anzusprechen. Diese Frau, Magda Prunera, war Musiklehrerin, die im Orfeó des Stadtteils Sants Unterricht gab und sonntags in der Kirche des Stadtviertels, die über keine Orgel verfügte, das Harmonium spielte. Übrigens war ihr Sohn Josep einer meiner besten Freunde. In Begleitung meiner Eltern bin ich zu ihr gegangen und habe ihr – selbstverständlich – mein Paradestück »La donna è mobile« vorgesungen, aber auch, wie ich mich zu erinnern meine, ein Lied des katalanischen Meisters Enric Morera. Nachdem sie mich angehört hatte, erklärte sie, ich besäße auf jeden Fall ein gewisses natürliches Gefühl für Musik, und es könne sich lohnen, mir Unterricht geben zu lassen. So bekam ich bei ihr meine ersten Gesangs- und Klavierstunden. Das gefiel mir, und so beschloss mein Vater, mich im städtischen Konservatorium anzumelden, dessen Besuch für städtische Bedienstete und deren Angehörige kostenlos war. Dort setzte ich meine Ausbildung am Klavier und im Gesang fort. Wie sich zeigte, sollte sich mir schon bald die unerwartete Möglichkeit zu einem Auftritt bieten.

4.
Mario del Monaco und László Kubala an der Schlafzimmerwand
    U nser Gedächtnis lässt sich ein wenig mit einer alten Keksdose vergleichen, in der wir dies und jenes zur Erinnerung aufbewahren – hin und wieder taucht es ganz ohne unser Zutun auf und bewirkt, dass wir uns wieder wie das Kind fühlen, das wir früher waren. So sieht José Carreras, während er seine Kindheitserinnerungen wachruft, einen Augenblick lang den kleinen Jungen wieder, der im Bett des Zimmers, das er sich mit dem älteren Bruder teilte, davon träumte, eines Tages als berühmter Tenor wie Mario del Monaco ganze Opernhäuser zu füllen. Ein großes aus einer Zeitschrift ausgeschnittenes Foto an der Wand des Zimmers zeigte den von ihm bewunderten Sänger als Othello, der, einen Ring im rechten Ohrläppchen, mit stechendem Blick, sauber gestutztem Kinnbart und geschwärztem Gesicht über dem offenen Hemd mit beiden Händen seinen blauen Umhang umklammert. Das Bild gleich daneben zeigte László Kubala im Trikot des FC Barcelona in einem Augenblick, da er mit seinem schussstarken rechten Fuß einen Freistoß ausführte. So manches Mal stellte sich José mit geschlossenen Augen vor, wie er selbst über den Rasen des weniger als zehn Gehminuten vom Elternhaus entfernten Stadions von Barça lief. Als er zwölf Jahre alt war, schenkte ihm der Vater ein Netz mit einem Lederball darin, den er so manche Nacht mit ins Bett genommen hat. Musik und Fußball waren und sind die beiden Dinge, die Carreras am meisten am Herzen liegen. Es war für ihn ein großes Glück, dass der Vater bei der Stadtpolizei untergekommen war, weil er schon als kleiner Junge dank dessen Uniform kostenlos Zutritt zu den beiden Tempeln bekam, denen seine ganze Sehnsucht galt: dem an den Ramblas gelegenen Opernhaus Gran Teatre del Liceu und dem Stadion von Camp Nou. Es fällt schwer zu sagen, was für ihn aufregender war.

    Ich erinnere mich noch genau an meine erste Oper im Liceu. Im Dezember 1956, ich war gerade zehn Jahre alt geworden, begleitete ich meinen Vater, der seine Galauniform trug, und erlebte im fünften Rang eine Aufführung von Verdis Aida , in der die großartige Renata Tebaldi an der Seite des ebenso glänzenden Umberto Borsó sang. Der Eindruck, den ich an diesem Abend gewann, lässt sich nur schwer beschreiben. Die vier Stunden vergingen wie im Fluge. Ich war ganz zappelig, als vor der Ouvertüre die Lichter erloschen, das Orchester zu spielen begann und der Vorhang sich hob. Das von Josep Mestres i Cabanes entworfene Bühnenbild entführte mich in die mir völlig unbekannte Welt des alten Ägypten. Es kam mir vor, als führte mich eine Zauberhand in die Mitte eines faszinierenden Universums. Nach dem letzten Akt klatschte ich wie alle anderen Zuschauer Beifall für die Tebaldi, die einfach hinreißend gewesen war, bis mir die Hände brannten. Das Publikum war begeistert

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