Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
die Proben bei ihm zu Hause stattgefunden hatten. Er bewohnte ein schönes Landhaus in Mauerbach am Rande des Wienerwaldes, das früher zu einem mittelalterlichen Kloster gehört hatte. Alles verlief nach Wunsch und ohne den geringsten Zwischenfall. Doch in der beruhigenden Einsamkeit eines Aufnahmestudios oder leeren Konzertsaals zu singen, ist nicht dasselbe wie der Auftritt auf einer riesigen Bühne vor einem fachkundigen Publikum. Obwohl die Plattenaufnahme Carreras’ Vertrauen in seine Möglichkeiten bestärkt hatte, war ihm durchaus bewusst, dass es an einigen Stellen Schwierigkeiten geben konnte. Er hatte sich in Anif, ganz in der Nähe von Salzburg, eingemietet, einem Ort, an dem auch Karajan eine Zeit lang gelebt hatte,
und es kam ihm so vor, als begleite ihn der Geist des Dirigenten auf Schritt und Tritt. Doch der Druck ließ sich mit Händen greifen, der Sänger war angespannter als sonst, weniger bereit, seine Gefühle zu äußern, und empfand eine noch größere innere Unruhe als am Tag seines ersten Auftretens in der Mailänder Scala. Daher ging er am Tag der Premiere im Festspielhaus Stunden vor Beginn der Vorstellung allein in den Wald, um sich abzulenken und Zwiesprache mit sich selbst zu halten. Nach einer Weile sah er auf einer Nebenstraße zwei Polizeibeamte auf Motorrädern, die forschend zu ihm hersahen. Er fürchtete, dass sie ihn nach seinen Papieren fragen und sogar mitnehmen würden – obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen –, sodass er nicht rechtzeitig ins Theater kommen würde. Einem Menschen, der unter großem Druck steht, gehen nun einmal die verrücktesten Gedanken durch den Kopf. Die Beamten fuhren natürlich an Carreras vorüber, ohne ihn bei seinem Spaziergang zu stören. Nach der Rückkehr in die Wohnung hatte sich seine Gemütsverfassung leider nicht merklich gebessert.
Karajan, der sich allem Anschein nach vorstellen konnte, wie ich mich fühlte, rief mich an, um mir mitzuteilen, dass er vollständiges Vertrauen zu mir habe und überzeugt sei, dass es ein großartiger Abend werde. Diese Worte waren Balsam für meine Seele. Zum einen wirkten sie wie ein wunderbares Beruhigungsmittel, und zum anderen erfüllten sie mich mit einem geradezu euphorischen Gefühl. Ich holte tief Luft, und als ich auf die Straße hinaustrat, spürte ich in mir die Kraft, mich der Herausforderung zu stellen. Ich sagte mir, dass Radames zwar eine überaus schwierige Rolle sei, zugleich aber auch eine äußerst dankbare. Ein Orchester von rund hundert Musikern und ein Chor von immerhin zweihundert Stimmen würden einen Schutzmantel um mich legen, während ich unter der Leitung des angesehensten Dirigenten der Welt sang. Wenn Karajan an mich glaubte, konnte das nur heißen: Er war sicher, dass ich es schaffen würde. Außerdem hatten wir das Stück gründlich geprobt. Der 26. Juli 1979 gehört zu den Tagen in meiner Laufbahn, die sich besonders tief ins Gedächtnis eingebrannt haben. Wie aufsehenerregend
das Ergebnis war, lässt sich allein schon daran sehen, dass im nächsten Sommer, als wir Aida wieder aufnahmen, die ganze Spielzeit hindurch keine Oper beim Publikum so begehrt war wie diese. Man hätte mühelos sechs- bis siebenmal so viele Karten verkaufen können, als zur Verfügung standen.
Im Jahre 1981 arbeitete ich nicht mit Karajan zusammen, gab aber in Salzburg ein Solokonzert und spielte im Jahr darauf mit ihm für die Deutsche Grammophon eine ganz besondere Carmen ein, die wir anschließend auch in Salzburg aufführten. An dieser inzwischen viel gerühmten Aufnahme wirkten auch Agnes Baltsa, José van Dam und Katia Ricciarelli mit. Der Don José in dieser Oper von Bizet gehört zu meinen Lieblingsrollen, vor allem, seit mir Karajan nach Ende der Plattenaufnahme gesagt hat: »Ich musste vierundsiebzig Jahre alt werden, um den Don José so zu hören, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte.« Da ich wusste, wie sparsam er mit Lob umzugehen pflegte, darf ich diese mit Bestimmtheit vorgetragene Anerkennung wohl als das schönste Kompliment ansehen, das man mir je gemacht hat.
Zuvor war bei der Interpretation des Don José eine unerwartete Anforderung an Carreras gestellt worden. Bei der Probe der »Blumenarie« im zweiten Akt hatte der Dirigent unmittelbar vor dem Ende abgeklopft und ihm mitgeteilt: »Ich denke, der Tenor sollte dieses letzte B nicht wie üblich forte, sondern pianissimo singen. Es wäre mir recht, wenn Sie das einmal versuchen könnten.« Zwar erstaunte ihn
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