Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
was seinen Ruhm, als auch, was seine Begabung anging. Geschickt hatte er die in Amerika schon lange bestehende Tradition der im Rundfunk ausgestrahlten Young People’s Concerts dadurch popularisiert, dass er sie vom Fernsehen aufzeichnen ließ, wodurch sie nicht nur im ganzen Land Berühmtheit erlangten, sondern auch in großer Zahl auf Platten verkauft wurden. Das machte ihn zum Wegbereiter für zahlreiche von anderen Dirigenten in anderen Ländern kopierte Fernsehprogramme, deren Ziel es war, die Jugend an die klassische Musik heranzuführen. Er achtete sorgfältig darauf, dass das jeweilige Skript gut aufgebaut war, und leitete all diese Konzerte vom Pult der New Yorker Philharmoniker aus. Überdies war er für seine Erfolge am Broadway wie auch für seine Konzerte, seine Ballettaufführungen und seine Plattenaufnahmen weithin bekannt. Er wurde geradezu vergöttert, vor allem in Manhattan, wo er lebte und wo ihm die Menschen zujubelten. Den Höhepunkt seiner Popularität allerdings hatte er mit dem Musical West Side Story erreicht, das die Geschichte von Romeo und Julia in unsere Zeit verlegt.
Während ich mit dem Aufzug zur obersten Etage des RCA-Gebäudes fuhr, dachte ich an den Film West Side Story, den ich mit dreizehn oder vierzehn Jahren gesehen hatte. Wie vermutlich alle Jungen meiner Generation hatte ich mich Hals über Kopf in Natalie Wood mit ihren großen Augen und der fantastischen Figur verliebt und mich gefragt: »Gibt es wirklich solche Frauen?« All das zusammen sorgte dafür, dass mich ein sonderbares Gefühl übermannte, als ich den Rainbow Room betrat und mich Bernstein vorstellte. Dabei war ich kein Anfänger mehr – immerhin lag mein erster Auftritt an der Scala volle neun Jahre zurück, und ich hatte seither große Erfolge an einigen der berühmtesten Opernhäuser der Welt gefeiert, darunter die Metropolitan Opera von New York.
Außerdem hatte man mich und keinen anderen Tenor dazu ausersehen, zusammen mit einer Reihe weiterer erstklassiger Sänger und Sängerinnen an dieser Aufzeichnung mitzuwirken. Nachdem ich mich einige Minuten mit Bernstein unterhalten hatte, stellte er mich den anderen vor, unter ihnen Kiri Te Kanawa.
Schon bald lernte ich ihn näher kennen. Er war ein charakterstarker und temperamentvoller Mann von explosivem Wesen und einer geradezu unvorstellbaren musikalischen Begabung. Aus jeder seiner Poren quoll Musik. Er war anspruchsvoll, konnte es sich aber auch leisten, denn er wusste genau, was er wollte. Zum ersten Mal in meinem Berufsleben sah ich mich in der Situation, dass der Komponist des Werks, in dem ich singen sollte, dieses selbst dirigieren würde, und das bedeutete eine besondere Herausforderung. Vom ersten Augenblick an war mir klar, dass er überall korrigierend eingreifen würde, wo es etwas zu korrigieren gab, Vorschläge machen würde, wo es Vorschläge zu machen gab, und durchsetzen würde, wovon er überzeugt war, dass es durchgesetzt werden musste.
Carreras quartierte sich in der Wohnung eines guten Freundes an der 72. Straße, Ecke Columbus Avenue, ein. Die ersten Proben fanden ausschließlich mit Klavierbegleitung statt, zusammen mit Kiri Te Kanawa und den übrigen Sängern, unter ihnen Tatiana Troyanos, Kurt Ollmann und Marilyn Horne. Für die Aufzeichnung standen nur knapp vier Tage zur Verfügung, weil die Plattenfirma Kosten sparen wollte. Die Aufnahme des von Carreras zu singenden Titels »Maria« wurde auf den letzten Tag verschoben. Dabei handelt es sich um die wichtigste Nummer der Hauptfigur Tony, des einstigen Anführers der irisch-amerikanischen Bande der Jets. Er hat sich in Maria, die Schwester Bernardos, des Anführers der puertorikanischen Bande der Sharks, verliebt.
Für mich war die Aufnahme nicht einfach. Nicht nur musste ich zum ersten Mal auf Englisch singen, die Sache wurde mir auch noch dadurch erschwert, dass Tony Amerikaner ist, Maria hingegen
Latina. Die erste Probe dauerte drei Stunden, in denen wir das ganze Werk durchgegangen sind. Insgesamt dürften wir ein halbes Dutzend Proben gemacht haben. Da uns nicht mehr Zeit zur Verfügung stand, haben wir nach dieser »Kontaktaufnahme« des Dirigenten mit den Sängern sogleich mit der Aufzeichnung begonnen. Das RCA-Studio befand sich im selben Gebäude, in dem wir uns zuerst begrüßt hatten. Obwohl Bernstein wegen des Zeitdrucks, unter dem wir arbeiten mussten, leicht nervös war, kamen wir gut voran. Er teilte mir mit, wir würden den Song »Maria« für den letzten Tag
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