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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Carreras
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dies Ansinnen, doch hörte er sich Karajans Argumentation zu Ende an, wobei sich zeigte, dass sie keiner bloßen Laune entsprang. Karajan erklärte, dass Don José in diesem Augenblick unsterblich in Carmen verliebt ist. Er hat ihr gerade mitgeteilt, dass er im Gefängnis die Rose, die sie ihm zugeworfen hatte, wie einen Schatz bewahrt hat, weil ihn deren Duft in der Nacht so betört hatte, dass er Carmen in seinen Träumen sehen konnte. Dann singt er »Et j’étais une chose à toi« (und ich gehörte dir an), womit er zeigt, dass er ihr mit Leib und Seele verfallen ist. Daher hielt der Dirigent es für unpassend, die Arie mit einem kraftvoll herausgeschleuderten letzten Ton zu beenden, wie Carreras das
getan hatte, und erklärte, es sei besser, dabei eine liebevolle Empfindung in die Stimme zu legen. Einen so hohen Ton leise zu singen bedeutete in einer schwierigen Arie einen zusätzlichen Stolperstein. Das kleinste Kratzen in der Kehle, ein noch so winziger Fehler beim Ansatz des Tones, eine auch nur leicht ungenaue Atemführung können dazu führen, dass die Stimme umkippt – und das lässt sich auf der Bühne unmöglich verheimlichen oder überspielen. Doch es gelang einwandfrei, und wer sich dreißig Jahre später die Aufnahme der Deutschen Grammophon anhört, kann das ungewöhnliche Ergebnis bewundern.
    In den folgenden Jahren arbeitete Carreras mehrmals mit dem österreichischen Dirigenten zusammen, und zwar bei einer konzertanten Vorstellung der Tosca in Berlin sowie bei weiteren Aufführungen von Verdis Requiem, in Carmen bei den Salzburger Osterfestspielen 1985 (die dann für die Sommerfestspiele übernommen wurde) und auch wieder im folgenden Jahr. Bei den Proben zu jener Carmen kam es zu Spannungen. Die griechische Sopranistin Agnes Baltsa hatte sich offenbar über irgendeine Äußerung Karajans geärgert und erklärte in einem Anfall von Starallüren ( »Ganz zürnende griechische Diva«, versichert Carreras), sie werde gehen. Ungerührt gab der Dirigent zurück, dass er das bedauere, doch wenn ihr Entschluss feststehe, solle sie auch ihre Garderobe räumen und die Tür leise hinter sich zumachen.
    Nachdem man eine Woche geprobt hatte, wurde sie durch die Münchner Mezzosopranistin Helga Müller-Molinari ersetzt. Die Baltsa war eine ausgezeichnete Sängerin, mit der José Carreras schon oft zusammengearbeitet hatte und mit der er sich prächtig verstand, doch wenn ihr etwas gegen den Strich ging, reagierte sie durchaus temperamentvoll und bisweilen auch aufbrausend. Wenige Monate später sang er mit ihr im Liceu in einer neuen Inszenierung von Bizets Oper, die nüchterner und nicht so »hollywoodmäßig aufgedonnert« war, wie die Baltsa sich ausdrückte, und es gab dabei nicht die geringste Schwierigkeit. Auch ihr Ausbruch in Salzburg, über den in der Presse Mitteleuropas Ströme von Tinte geflossen waren, wurde dort mit keiner Silbe erwähnt.

    Nachdem ich meine Krankheit überwunden hatte, habe ich Karajan noch einmal in Salzburg gesehen, und wir haben auch einige Male miteinander telefoniert. Als ich mich kräftig genug fühlte, um Mitte des Jahres 1988 wieder auf Tournee zu gehen, nutzte ich eine Reise nach Italien, um ihn in seinem Haus in Österreich aufzusuchen. Wir unterhielten uns über die Wechselfälle des Lebens, über meine Krankheit, und er sagte, er werde auch künftig gern wieder mit mir arbeiten: »Gib mir Bescheid, wenn du vollständig wiederhergestellt bist und Lust auf was Neues hast. Dann können wir uns noch einmal zusammensetzen und uns etwas überlegen.« Mit diesen Worten flößte er mir Zuversicht und Selbstvertrauen ein, etwa so wie damals mit dem Anruf einige Stunden vor meinem ersten Radames in Aida.
    Noch im September desselben Jahres habe ich in der Wiener Staatsoper einen Liederabend gegeben, was in der Geschichte des Hauses ein absolutes Novum war. Mit diesem vom österreichischen Fernsehen live übertragenen Konzert bin ich nach meiner Krankheit nach Wien zurückgekehrt. Am nächsten Morgen hat mich Karajan angerufen und gesagt: »Ich habe mir gestern Abend deinen Auftritt angesehen und muss dir sagen, dass ich, ganz abgesehen von dem, was ich von dir bereits wusste, wirklich bewundert habe, wie du es fertiggebracht hast, nach einem so tiefen Einschnitt mit solcher Würde und Konzentration vor das Publikum zu treten. « Diese Worte haben mich außerordentlich erfreut und sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.
    Zu jener Zeit war Karajan noch nicht krank, hatte

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