Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
gemessene Distanz zu den Musikern, seine freundlich-spöttischen Kommentare und seine enorme Professionalität. Er sagt immer wieder, dass er sich bei ihrer ersten Begegnung vorkam, als trete er einer Art Gottheit gegenüber. Dass er bei der ersten Probe zum Verdi-Requiem in Salzburg 1976 zunächst keinen Ton herausbrachte, wurde bereits geschildert. Die Aufführung mit den Solisten Montserrat Caballé, Fiorenza Cossotto, José Carreras und José van Dam wurde aber ein voller Erfolg, und damit begann auf der Basis tiefer persönlicher Wertschätzung die enge Zusammenarbeit zwischen dem Tenor aus Barcelona und dem österreichischen Dirigenten.
Durch die Fürsorge, die er seinen Sängern angedeihen ließ, gab Karajan zu verstehen, dass er ihnen vertraute. Das sah in meinem Fall so aus, dass er mir, als ich bei einer Probe daranging, mit vollem Stimmeinsatz zu singen, durch ein unauffälliges Zeichen bedeutete, mich zurückzunehmen, um mich nicht zu überanstrengen. Bei einer dreistündigen Probe kam es vor, dass er von mir kaum länger
als zwei Minuten verlangte, mit voller Kraft zu singen, als wolle er meine Stimme schonen, indem er mir unnötige Anstrengungen ersparte. Es ist merkwürdig, dass ein so strenger und genauer Mann, den ich nie auch nur eine Minute habe zu spät zu den Proben kommen sehen, seine Sänger mit solcher Umsicht behandelte. Wenn es darauf ankam, konnte er ihnen aber alles abverlangen. Auf jeden Fall stand ein Künstler in Karajans Gegenwart stets unter Anspannung, was sicherlich mit der imponierenden Persönlichkeit dieses Dirigenten zusammenhing. Nicht nur entdeckte jeder von uns bei der Arbeit mit ihm neue Dimensionen der Opernkunst, es gelang ihm darüber hinaus, alles in der Musik folgerichtig erscheinen zu lassen, die damit dank ihm eine ungeheure Tiefe gewann.
Nach dem Erfolg im Frühjahr 1976 in Salzburg regte der Dirigent an, ich solle öfter mit ihm zusammenarbeiten: in Verdis Don Carlos bei den Salzburger Festspielen im darauf folgenden Jahr, den ich dort auch 1978 und 1986 sowie 1979 und 1980 in Wien sang, vor allem aber in La Bohème an der Staatsoper, vierzehn Jahre, nachdem Karajan Anfang der Sechziger gemeinsam mit Franco Zeffirelli dieses Werk an der Mailänder Scala herausgebracht hatte. Es war eine Inszenierung, die in die Geschichte eingegangen ist – weniger wegen des Skandals, zu dem es dabei gekommen war, sondern vor allem, weil es sich dabei um einen der größten Erfolge in der Geschichte des Mailänder Opernhauses handelte. Die Ursache für den Skandal war, dass sich Karajan gegen die Leitung des Hauses durchsetzte, die Giuseppe Di Stefano als Rodolfo verpflichten wollte, während er entschlossen war, diese Partie mit dem jungen Gianni Raimondi zu besetzen und die Rolle von Rodolfos Geliebter Mimi der nicht minder jungen Mirella Freni anzuvertrauen. Am Abend der Premiere lieferten sich die Anhänger Di Stefanos, der aus Catania auf Sizilien stammte, und die des Bolognesers Raimondi ein Brüllduell, wie es das Haus noch nie erlebt hatte. Am Ende der Aufführung beruhigte der Erfolg der Inszenierung den Konflikt, und tobender Applaus erfüllte den Saal. Als diese Inszenierung von der Wiener Staatsoper übernommen und dort von
Karajan dirigiert wurde, löste sie die gleiche Begeisterung aus und wurde schließlich sogar als Film aufgezeichnet. Ich erinnere mich, dass ich ihn mir zu der Zeit, als ich Gesangsstunden bei Puig und Ruax nahm, in einem Kino in Barcelona mehrfach angesehen habe.
Dass mir Karajan vierzehn Jahre später die Rolle des Rodolfo in La Bohème unter seiner Leitung anbot, noch dazu an der Wiener Staatsoper, wo er nahezu ebenso lange nicht dirigiert hatte, war für mich wie ein Märchen. Wieder einmal kam ich mir wie ein Glücks-und Sonntagskind vor.
Karajan kehrte 1977 mit einem Programm nach Wien zurück, das drei Opern umfasste, nämlich Verdis Der Troubadour, Puccinis La Bohème und Mozarts Figaros Hochzeit . Jede wurde an jeweils drei Abenden aufgeführt. Man sprach in ganz Wien von nichts anderem, und die Stadt feierte die künstlerische Heimkehr des verlorenen Sohnes mit einem allabendlich ausverkauften Haus. In langen Schlangen standen Menschen nächtelang an, um eine Eintrittskarte zu ergattern. Eröffnet wurde der Zyklus mit Der Troubadour. Die Tenorpartie des Manrico sang Luciano Pavarotti, den Carreras in Barcelona kennengelernt hatte. Von ihm hatte er den Rat bekommen, sich mit der Atmosphäre des Hauses vertraut zu machen, bevor er
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