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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Carreras
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aufheben, und ich erklärte mich damit einverstanden. Dieser letzte Tag begann um zehn Uhr morgens, und obwohl das für einen Sänger sehr früh ist, war ich mit meinen Noten pünktlich zur Stelle. Um ein Uhr mittags ging dieser Teil der Aufzeichnung zu Ende, ohne dass ich meinen Part gesungen hätte. Als die Arbeit am Nachmittag wieder aufgenommen wurde, war ich zwar erneut bereit zu singen, aber mittlerweile ein wenig angespannt und leicht verkrampft. Während Stunde um Stunde verging, quälte mich der Gedanke immer mehr, dass ich der Schwierigkeit des Songs und dem Zeitdruck zum Trotz fehlerfrei singen müsse. Ich war diese Art der Schallplattenarbeit nicht gewohnt, doch bei Bernstein liefen die Dinge nun einmal so. Etwa um Viertel vor sechs – inzwischen war ich mit meinen Nerven schon fast am Ende – rief mir der Dirigent zu: »José, Pepe, vorwärts, jetzt kommt dein Song.« Bei diesen Worten ging mir durch den Kopf: Großer Gott, was für ein verdammter Schlamassel.
    Kaum hatten wir mit der Aufnahme begonnen, als ich Bernstein bat, noch einmal von vorn anzufangen. Er erklärte mir, dazu gebe es keinen Grund, da alles bestens gelaufen sei. Das verstärkte die Anspannung im Studio, denn ich hatte durchaus den Eindruck, dass es besser ginge und es sich daher lohnen würde, die Sache zu wiederholen. Da ich kein Neuling war – immerhin hatte ich schon an die zwei Dutzend Opern aufgenommen –, hörte ich auf zu singen und ließ das Orchester weiterspielen, um zu erreichen, dass wir die Aufnahme doch noch einmal machen mussten. Als Bernstein
sah, dass ich den Mund nicht öffnete, sang er selbst: »I’ll never stop saying Carreraaaas!« (Ich werde immer wieder Carreraaaas sagen), wobei er meinen Namen an die Stelle von »Mariaaaa« setzte. Durch diese Reaktion ein wenig aus der Fassung gebracht, sah ich ihn finster an und setzte an der Stelle wieder ein, an der ich mit Singen aufgehört hatte. Doch jetzt legten die Musiker ihre Instrumente beiseite und standen auf, denn es war sechs Uhr, und die amerikanischen Gewerkschaften achten streng darauf, dass niemand nach Ende der offiziellen Arbeitszeit auch nur einen Handschlag tut. Jetzt platzte mir doch der Kragen, und ich bedachte die Musiker mit wilden Verwünschungen. Bernstein warf ich wütend vor, er habe mich den ganzen Tag untätig herumsitzen lassen und mich, als ich endlich doch mit Singen an der Reihe war, daran gehindert, den Anfang zu wiederholen, weil es ihm nicht schnell genug gehen konnte – und jetzt packten zu allem Überfluss die Musiker, als seien sie Fließbandarbeiter, ihre Instrumente ein und verließen das Studio, weil sie nicht gewillt waren, ein paar Minuten anzuhängen.
    Die Aufzeichnung musste unbedingt am nächsten Tag fertig werden, doch alles ging gut. Letztlich hatte sich die Sache gelohnt, denn die Aufnahme wurde über eine Million Mal verkauft und bekam mehrere Goldene Schallplatten. Das Making-of war wegen des beschriebenen Zwischenfalls, den Bernstein und ich für die Dokumentation erläutern mussten, ebenso gefragt. Er zeigt, wie ich meine Noten packe, damit auf das Dirigentenpult schlage und stinksauer auf Italienisch »Porco D…« ausrufe. Im italienischen Fernsehen hat man diese gotteslästerliche Verwünschung mit einem Pfeifton überblendet.

    Trotz dieses Zwischenfalls blieb das Verhältnis zwischen Dirigent und Sänger ungetrübt. Carreras hat in Bernstein stets jemanden gesehen, dessen Einfluss auf das Musikleben des 20. Jahrhunderts niemand leugnen kann und der als Dirigent, Komponist, Autor und Lehrender einem »absoluten« Musiker am nächsten kam. Nach Ansicht von Carreras war Bernstein weniger
als Dirigent umstritten, sondern eher als Komponist, weil ihm manche Zeitgenossen die Zugeständnisse an den »Geist des Broadway« nicht verziehen. Doch bleibt es sein unbestrittenes Verdienst, Jazz, Folklore sowie Gershwin- und Strawinsky-Klänge in sein Werk eingearbeitet zu haben. Auch muss man anerkennen, dass es ihm gelungen ist, ein breites Publikum zu erreichen und ein Mensch seiner Zeit zu sein. Wie er gegen Ende seines Lebens gesagt hat: »Die Musik hat mir mein Leben gegeben, und ich habe mein Leben der Musik gegeben.«
    Nach der Aufzeichnung der West Side Story ist Carreras für einige Tage nach Spanien zurückgekehrt, um Aufnahmen für eine Platte mit dem Titel Mi otro perfil (Mein anderes Gesicht) mit Musik des aus Manacor stammenden mallorquinischen Komponisten Antoni Parera Fons zu machen. Da die beiden eng

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