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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Carreras
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amerikanischen Krankenhaus ein Aspirin zu bekommen.

    Zwar hatte Carreras mit einem gewissen Papierkrieg gerechnet, dennoch überraschte ihn die Unzahl an Dokumenten, die er zu unterschreiben hatte, damit man ihn behandelte, auch wenn ihm klar war, dass sich die Ärzte juristisch absichern mussten. Er ist aber dankbar dafür, dass man ihn jederzeit vollständig über alle Untersuchungen und Vorgehensweisen informiert hat, sodass er sich auf jede Eventualität einstellen konnte. Schon bald merkte er, dass er nicht zu befürchten brauchte, man könne ihm die Wahrheit über seinen Zustand vorenthalten: Die Ärzte machten ihm weder falsche Hoffnungen, noch verschwiegen sie ungünstige Befunde, wie das in Europa geschehen kann, wo das Personal in den Krankenhäusern eine engere Beziehung zum Patienten pflegt und sich bemüht, ihn bei einer auch noch so ungünstigen Diagnose zu ermutigen.

    Es kommt in den Vereinigten Staaten vor, dass ein Arzt bei einer Analyse oder einer Untersuchung etwas Verdächtiges entdeckt und das dem Patienten mitteilt, bevor er sich durch eine erneute Überprüfung Gewissheit verschafft hat. Bisweilen führt das zu unnötiger Angst und Sorge. So konnte ich einmal wegen einer solchen Sache eine ganze Nacht lang vor Unruhe nicht schlafen.

    Doch in den vier folgenden Monaten hatte er Zeit, sich an diese und andere Besonderheiten der US-amerikanischen Medizin zu gewöhnen.

    Als man mich im »Hutch« aufnahm, legte man mich in ein Zimmer, in dessen kleinem Vorraum ein Schlafsofa stand, auf dem jemand übernachten konnte. Es lag im elften Stock, und man hatte aus dem Fenster einen herrlichen Ausblick. Die Krankenhausverwaltung bemühte sich, für meine Geschwister eine Wohnung möglichst nahe der Klinik zu finden. Nachdem alle nötigen Untersuchungen durchgeführt worden waren, bestätigte sich die Notwendigkeit einer autologen Transplantation, da sich unter meinen Blutsverwandten kein geeigneter Spender gefunden hatte. Ich wusste genau, was mich erwartete: die Entnahme meiner Knochenmarksubstanz, die Chemotherapie, die Bestrahlung und schließlich
die Transplantation. Außerdem war mir bewusst, dass das Ganze mit Schmerzen verbunden oder, genauer gesagt, die reinste Tortur sein würde. Vor allem aber bestand nicht die geringste Gewissheit, dass ich damit die Leukämie besiegen würde. Daher plagte mich zusätzlich die quälende Sorge, ob das Ganze überhaupt Erfolg haben würde.

    Einen der Briefe, die zu jener Zeit im Krankenhaus von Seattle eintrafen, hatte Luciano Pavarotti eigenhändig geschrieben, den Carreras gut kannte und mit dem er schon mehrfach zusammen gesungen hatte. Es entsprach nicht Pavarottis Art, Lobeshymnen auf Kollegen anzustimmen, und er gab auch nicht viel auf die Meinung anderer. Doch er war zuverlässig, stand für das ein, was er sagte, und an seiner Aufrichtigkeit konnte es keinerlei Zweifel geben. In dem Brief hieß es: »José, werd bloß gesund, sonst hab ich keinen Konkurrenten mehr.« Ehrlich gemeinte Worte wie solche sind dazu angetan, einen Menschen aufzurichten, der sich in der Einsamkeit eines Krankenzimmers befindet und nicht weiß, ob er nach einer langwierigen Behandlung geheilt sein wird oder nicht.

    Die eigentliche Behandlung begann am 6. November. Unter Leitung des Direktors Edward Donnall Thomas machten sich die Ärzte Jean Sanders, Alberto Grañena und Dean Buckner daran, mir insgesamt einen Liter Knochenmark zu entnehmen, und zwar am Beckenkamm, weil der menschliche Körper dort die größte Menge dieser Substanz enthält. Dazu waren immerhin neunhundert Einstiche nötig, die aber nicht besonders schmerzhaft waren, weil man zuvor eine Rückenmarksanästhesie durchgeführt hatte. Die Schmerzen kamen hinterher, als die Wirkung der Anästhesie nachließ. Tagelang schmerzte mein ganzer Körper, ganz gleich, welche Stellung ich einzunehmen versuchte. Diese Tage sind in meiner Erinnerung wie ein Albtraum. Beeindruckt sah ich, wie die Ärzte einen mit dicker blutiger Flüssigkeit gefüllten Behälter mitnahmen, von der sie mir erklärten, es handele sich um mein Knochenmark, das man von Krebszellen befreien werde. Es kam mir vor, als fehle
mir etwas, als habe man mir das Leben entrissen und lasse meinen reglosen Körper zurück. Die folgenden Tage waren nicht besser: Ich bekam aggressive Zytostatika, Zellgifte, die die bösartigen Zellen vernichten sollten. Nahezu zur selben Zeit begannen die Bestrahlungen und die Chemotherapie. Mir war unerträglich übel, ich

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