Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
doch, dass ich bald wieder Freude am Essen haben würde. Aber ich bedaure, meinen Geschwistern in meiner Gier, endlich wieder etwas schmecken zu können, Kummer bereitet zu haben. Ich werde ihnen nie genug für die Opfer danken können, die sie mir im Verlauf dieser Monate gebracht haben. Während sie an meiner Seite waren, vernachlässigten sie ihren Beruf und verzichteten darauf, bei ihren Kindern zu sein. Ich erinnere mich, wie ich vor Neid vergangen bin, als sie mir bei einem Besuch sagten, sie kämen gerade aus einer Bierstube, und bei mir dachte: Verflucht, die haben vorhin ein eiskaltes Bier getrunken, und ich muss verzichten, weil ich hier an die Schläuche angeschlossen bin. Später erfuhr ich, dass sie ein Lokal namens Daniel’s aufzusuchen pflegten, wo man herrliche Fleischgerichte bekam – sie haben mich einmal dorthin mitgenommen, bevor wir nach Barcelona zurückkehrten, doch konnte ich nur wenig essen.
An jenem Weihnachten, das so nasskalt war wie alle in Seattle, erlebte Carreras den Beginn des zweiten Teils seines Lebens. Damit, dass er das Krankenhaus – und sei es auch nur für kurze Zeit – verlassen durfte, gewann seine Welt an Farbe. Er ließ die weißen Wände seines Klinikzimmers, die weißen Kittel der Krankenschwestern und Ärzte, die er täglich um sich sah, vorübergehend hinter sich. Dieser erste Ausflug gab ihm neuen Auftrieb, obwohl er nach wie vor von seinem »Maschinchen« abhängig war, wie er die Infusionspumpe nannte, die er mit sich herumtragen musste. Während jener Tage war er einige Minuten in der Wohnung allein, weil seine
Geschwister zu einem Einkauf in den Supermarkt gegangen waren, und als es klingelte, öffnete er die Tür ganz mechanisch, weil er annahm, sie hätten etwas vergessen oder der Hauswart bringe die Post. Zu seiner Überraschung stand Esperanza Navarrete davor, eine Journalistin der Zeitschrift Lecturas, der es gelungen war, sich in das Gebäude einzuschleichen und bis zur Wohnung 1303 vorzudringen.
Als sie sich vorstellte, habe ich ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Das war mir zwar unangenehm, aber ich hatte keine Lust, mit jemand anderem als meinen Angehörigen zu sprechen. Immerhin war die Behandlung noch längst nicht abgeschlossen, und es war ein sonderbares Gefühl, ständig mit einem Apparat am Körper herumzulaufen – meiner Ansicht nach nicht der geeignetste Augenblick, ein Interview zu geben. Sogar an dem Tag, an dem ich von Seattle aus zurückflog, habe ich sie wiedergesehen. Da saß sie doch tatsächlich neben mir im Flugzeug. Ich habe keine Ahnung, wie sie das geschafft hat, Dr. Grañena jedenfalls hatte keinen Platz mehr bekommen, weil die erste Klasse ausgebucht war.
Doch gerade, als es so aussah, dass alles gut ausgehen würde, begannen die Komplikationen. Dr. Dean Buckner hatte sich zuversichtlich gezeigt, weil sich bei den Untersuchungen keine Hinweise auf das Vorhandensein von Leukämiezellen fanden, und Carreras war überzeugt, die härteste Prüfung seines Lebens bestanden zu haben. Dann aber tauchte der Arzt eines Januartages unerwartet im Zimmer auf, um Carreras zu eröffnen, dass das transplantierte Knochenmark keine Blutkörperchen mehr bilde, was zu einer Verminderung der Abwehrkräfte führe. Schon bald ging es ihm schlechter, und da das Schlimmste zu befürchten war, stand er kurz vor dem Zusammenbruch. So viele Opfer hatte er auf sich genommen, so viele Schmerzen ertragen, so viel Angst und Sorgen überwunden, und musste jetzt erfahren, dass das übertragene Knochenmark doch nicht tat, was von ihm erwartet wurde.
Die Neuigkeit, das transplantierte Knochenmark habe aufgehört, Blutkörperchen zu bilden, traf mich wie ein Keulenhieb. Ich erinnere mich, dass ich Dr. Buckner nach dem Grund für diese plötzliche Verschlechterung gefragt habe. Ich wollte wissen, ob sich da nichts machen ließe und es eine Möglichkeit gebe, die Produktion von Blutkörperchen neu anzuregen. Die Ärzte erklärten, sie hätten alles Mögliche versucht, das Knochenmark zu stimulieren, und sie könnten sich die Sache nicht erklären. Es kam mir vor, als stünde ich am Rande eines Abgrunds. Möglicherweise, hieß es, habe eine leichte Erkältung oder die Unverträglichkeit eines Medikaments die Regenerationsfähigkeit der Zellen zum Stillstand gebracht. Ich war bereit, mich jeder neuen Behandlung zu unterziehen, denn ich wollte weiterkämpfen, mich nicht aufgeben, mich an jede Möglichkeit klammern. Kein einziges Mal war ich auf dem langen
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