Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
ihm mit, alles verlaufe nach Plan, doch fand er schon nach wenigen Tagen ausgefallene Haare auf dem Kopfkissen – eine Nebenwirkung der Behandlung. Man hatte ihm vorher gesagt, dass es dazu kommen könne, und natürlich war es ihm alles andere als recht, seine Haare zu verlieren, doch viel größere Sorgen machte er sich um seine Stimme.
Es ist weniger eine Frage der Eitelkeit als ein sonderbares Gefühl, wenn man sich mit einem Mal im Spiegel nicht erkennt und sich nicht mit dem Gesicht identifizieren kann, das man da sieht. Es ist beunruhigend und verunsichert den Menschen. Wie stark man auch sein mag, es wirkt deprimierend, wenn man sich so außerordentlich verändert, um nicht zu sagen entstellt, sieht. Bei dieser Häufung von unangenehmen Empfindungen verfällt man schnell in tiefe Niedergeschlagenheit.
Carreras, ein von Natur aus lebensbejahender Mensch, der zugleich über eine ausgeprägte Fähigkeit zur Einfühlung verfügt, begriff, dass er sich auf keinen Fall dem Unglück geschlagen geben, das Selbstgefühl und den Mut verlieren durfte, sondern ganz im Gegenteil versuchen musste, nach Möglichkeit Haltung zu bewahren. Nach dem Ende des zweiten Chemotherapiezyklus war er entschlossen, die autologe Transplantation am Krebsforschungszentrum in Seattle durchführen zu lassen. Dessen Ärzte hatten eine Pionierleistung vollbracht, als ihnen 1975 eine solche Transplantation erstmals gelungen war. Alberto Grañena, der Hämatologe aus Professor Rozmans Arbeitsgruppe, der in Seattle den Umgang mit diesem Verfahren erlernt hatte, um es künftig in Barcelona anzuwenden, sollte Carreras zusammen mit seinen Geschwistern Albert und María Antònia auf dem Flug begleiten. Am 22. Oktober begann der letzte
Zyklus der Chemotherapie, und am 31. startete die Maschine Richtung Amerika.
Eine Maschine der British Airways brachte die kleine Gruppe um die Mittagszeit nach London, wo sie die Nacht in einem wenig wohnlichen Hotel in der Nähe des Flughafens verbrachte, um am nächsten Morgen mit Pan Am nach Seattle zu fliegen. Über Barcelona sah Carreras zum Fenster der Maschine hinaus, als fürchtete er, die Stadt, in der er aufgewachsen war und seine ersten Triumphe gefeiert hatte, zum letzten Mal zu sehen. Er erkannte den Hafen, aus dem die Familie einst dem südamerikanischen Abenteuer entgegengefahren war, die Ramblas, an deren Rand das Liceu steht, auf dessen Bühne er als Sänger debütiert hatte, und das Stadion seines Vereins Barça, wo er so viele schöne Augenblicke verbracht hatte. Er dachte an seine noch kleinen Kinder, Albert, der ihm so ähnlich war, und Júlia, die ihrer Mutter in so vielem nachschlug, und nahm sich vor, sie nicht zu enttäuschen.
Carreras:
»Doktor Grañena, sind die Ärzte am ›Hutch‹ wirklich so gut?«
Grañena:
»Ohne jeden Zweifel die besten. Sie werden das selbst sagen, wenn wir zurückkehren.«
11.
Rachmaninows zweites Klavierkonzert als Hintergrundmusik im Krankenhaus von Seattle
A m 1. November 1987 traf José Carreras in Seattle ein, diesmal aber nicht, um zu singen, sondern um sich wegen der Leukämieerkrankung behandeln zu lassen, die sein Leben bedrohte. In jenem Herbst war die Stadt, abgesehen davon, dass dort Boeing-Verkehrsmaschinen und Überschallflugzeuge gebaut wurden, noch keine Hightech-Hochburg, und auch Bill Gates wohnte noch nicht dort, wohl aber genoss das Fred-Hutchinson-Krebsforschungszentrum am vor langer Zeit von schwedischen Ärzten eingerichteten und nach ihnen benannten Swedish Hospital in der ganzen wissenschaftlichen Welt den Ruf, bei der Behandlung von Leukämie führend zu sein. José Carreras wusste, dass man dort seit der Gründung des Zentrums im Jahre 1975 bereits 2300 Patienten behandelt hatte. Gleich nach ihrer Ankunft quartierten sich sein Bruder, seine Schwester und Dr. Grañena in einem Hotel in der Stadtmitte ein; er selbst wurde für den nächsten Morgen im »Hutch« erwartet. Nach Unterschreiben einer ganzen Reihe von Formularen wurde er in der Klinik aufgenommen. Auch danach musste er nahezu jeden Tag Formular auf Formular unterschreiben, wobei er sich praktisch mit allem einverstanden erklärte, was man mit ihm unternahm.
Zum Schluss war ich so weit, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie von mir schriftlich das Einverständnis verlangt hätten, mir Gute Nacht zu sagen. Eines Tages habe ich einer der Ärztinnen gesagt, es sei einfacher, einen Vertrag mit der Metropolitan Opera in New York abzuschließen, als in einem
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