Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
sehen. Von dieser Frage war er wie besessen. »Nach einem halben Jahr der Behandlung im Krankenhaus fühlte sich mein Körper wie ein menschliches Wrack an, was sicherlich zu dieser tiefen Sorge beigetragen hat.« Als die ersten infolge der Chemotherapie und der Bestrahlungen aufgetretenen Infektionen in Mund und Rachen abklangen, sagten ihm die Ärzte, er solle Flüssigkeit zu sich nehmen, doch war er außerstande, sie bei sich zu behalten. Sobald er versuchte, auch nur einen Schluck Wasser zu trinken, überkam ihn Brechreiz. Doch im Laufe der Zeit, die er in dem sterilen Zimmer verbrachte, verschlechterte sich dank der durch einen Katheter zugeführten konzentrierten Nährlösung sein Aussehen nicht. An den sich endlos hinziehenden Tagen hatte er Gelegenheit, regelmäßig mit seinen Kindern zu telefonieren, die ihm berichteten, was sie in der Schule, zu Hause oder mit ihren Freunden erlebten. Es waren äußerst intensive Augenblicke, die Carreras sehr zu Herzen gingen und ihn in seiner Entschlossenheit bestärkten, mit noch mehr Kraft gegen die Krankheit anzukämpfen. Die Musik, Videos und Lektüre halfen ihm über die Langeweile hinweg. Dort in jenem Krankenzimmer wurde er 41 Jahre alt, und Tausende von Glückwünschen in Gestalt von Postkarten, Briefen, Telegrammen und Päckchen trafen im »Hutch« ein, und ihre Zahl nahm noch zu, je näher das Weihnachtsfest rückte. Die Leukämieerkrankung des Sängers brachte die Post von Seattle an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit: In weniger als einem Monat gingen bis zu hundertfünfzigtausend Sendungen aus allen fünf Erdteilen ein. Darunter befanden sich auch solche von seinen Kollegen Luciano Pavarotti und Plácido Domingo. Beide riefen auch mehrere Male an. »Halt durch, du
schaffst es!«, feuerte ihn der Italiener an, während ihn sein spanischer Landsmann mahnte: »Wir brauchen dich, José.« Besonders rührte ihn an, dass ihm Domingo – mit dem er sich über die Reihenfolge der Auftritte bei einer Gala in Wien gestritten hatte – Briefe voll Mitgefühl schickte, die seine menschliche Größe bewiesen. Einmal hat er ihn sogar in Seattle besucht, um ihm seine Verbundenheit zu zeigen.
Am 23. Dezember 1987 gestattete ihm Dr. Dean Buckner, ein bekannter Onkologe, der die gesamte Behandlung leitete, die Klinik für einige Tage zu verlassen, damit er mit seinen Angehörigen das Weihnachtsfest in der Wohnung feiern konnte, die sie in den Parkview Plaza Condominiums in der Seneca Street 1101 gemietet hatten, kaum mehr als fünf Gehminuten von der Klinik entfernt. Aus dieser sehr hellen Wohnung mit drei Schlafzimmern hatte man einen Blick über die der Stadt vorgelagerte Elliott-Bucht. Carreras musste die Klinik zwar jeden Tag aufsuchen, aber zwei Nächte nicht dort schlafen. Das freute ihn sehr, denn damit war klar, dass es aufwärtsging.
Nie werde ich dieses Weihnachtsfest vergessen, das sich so sehr von allen früheren unterschied. Ständig war ich an mein kleines »Maschinchen« angeschlossen, das mir Nahrung und Medikamente zuführte. Ich erinnere mich daran, wie neidisch ich war, als ich auf dem Teller meiner Geschwister Nudeln mit Lachs sah. Italienische Pasta esse ich so leidenschaftlich gern, dass ich zu Hause in Barcelona oder auf Reisen mittags bevorzugt ein italienisches Restaurant aufsuche. Ich liebe Pasta einfach, bin damit zugleich auf der sicheren Seite, denn überall auf der Welt gibt es gute italienische Restaurants, und wer die Sauce auch nur einigermaßen hinbekommt, kann einen Teller Spaghetti oder Fettuccine praktisch nicht verderben. Ich durfte aber äußerstenfalls einen Schluck San Pellegrino-Mineralwasser trinken und musste noch einen vollen Monat und zehn Tage warten, bis ich wieder selbst essen konnte. Als Erstes hatte ich Lust auf pastina in brodo – diese Brühe mit Suppennudeln brachte mich ins Leben zurück. Achtundvierzig Stunden später konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, vom Mozzarella mit
Tomaten und Basilikum zu probieren, den sich mein Sekretär Fritz Krammer, ein glänzender Koch, zubereitet hatte. Ich weiß noch, dass mein Bruder Albert ausrief: »Ihr seid ja verrückt!« Tatsächlich war mein Magen nicht imstande, das zu verdauen, und ich erbrach mich. Doch zumindest hatte ich einige Augenblicke lang den Geschmack von mit gutem Olivenöl angerichtetem Mozzarella und Tomaten genossen. Wieder essen zu können war einfach herrlich. Auch wenn ich mich mit jenem schwer verdaulichen Gericht zu weit vorgewagt hatte, wusste ich
Weitere Kostenlose Bücher