Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
erbrach mich bis zu dreißigmal am Tag und war außerstande, etwas zu essen. Durch einen Katheter leitete man Medikamente ein und entnahm Blutproben, denn mein Blut musste täglich untersucht werden, und durch einen zweiten wurde ich intravenös ernährt.
Die Bestrahlungssitzungen erschienen Carreras endlos, und so überlegte er, wie er sich ablenken konnte, vor allem aber, wie er die Zeit, die er in der Höllenmaschine der Radiotherapie verbrachte, kontrollieren und sich gleichzeitig beschäftigen konnte. Vom ersten Tag an sang er leise oder nur im Kopf Opernarien, deren Dauer er ja auf die Sekunde genau kannte.
Gewöhnlich nahm ich mir lange Arien vor und sang für mich »Cielo e mar« (Himmel und Meer) aus Ponchiellis La Gioconda, eine Arie, die mir sehr gefällt und die fünf Minuten dauert. Außerdem »Celeste Aida« aus der gleichnamigen Oper, eins meiner Lieblingsstücke, mit einer Dauer von vier Minuten, aber auch »Che gelida manina« (Wie eiskalt ist dies Händchen) aus Puccinis La Bohème , »Nessun dorma« (Keiner schlafe) aus dessen Turandot und die »Blumenarie« aus Carmen . Mitunter ließ ich auf eine Arie Kanzonen folgen: zum Beispiel »Non t’amo più« (Ich liebe dich nicht mehr) von Tosti oder eine aus Neapel wie »O paese d’o sole!« (O Land der Sonne). Mehr als einmal hatten mich die Schwestern mitten in meinem hohen C abgeholt. Es war eine sonderbare Empfindung, keinen Dirigenten zu haben, der das genaue Zeitmaß vorgab, und so konnte es passieren, dass die Bestrahlungssitzung zu Ende ging, bevor ich mit meiner Arie fertig war. Dann kam es mir vor, als hätte ich meine Arbeit nicht ordentlich erledigt. Voll Besorgnis wartete ich auf die Rückübertragung des gereinigten Knochenmarks – der Zeitpunkt, an dem das geschah, wurde im
»Hutch« als Tag null bezeichnet. Am 16. November war es so weit. Von Dr. Grañena überwacht, injizierte man mir das Knochenmark durch die Vene, von wo es, wie man mir erklärte, von selbst seinen Weg in die Leerräume der Knochen finden würde.
Damit begann die entscheidende Phase der Transplantation: Jetzt konnte man nur noch warten, ob das im Labor von Krebszellen befreite Knochenmark seine Aufgabe erfüllte. Es waren fünf Wochen voller Sorge, aber zugleich auch voll Hoffnung. Manche Patienten überstehen diese kritische Phase nicht, in der man über keinerlei Immunabwehr verfügt, sodass eine noch so unbedeutende Infektion entsetzliche Folgen haben kann. Daher musste ich ununterbrochen eine Schutzmaske tragen und mich in einer Laminar-Airflow-Einheit aufhalten, einem sterilen Zimmer, in dem ich während der zweiten Novemberhälfte und der Zeit bis zum 21. oder 23. Dezember vollständig von der Außenwelt isoliert war. Meine Geschwister konnten mich durch eine durchsichtige Trennscheibe sehen, und die Schwestern verabreichten mir über darin eingearbeitete Handschuhe Medikamente oder machten Bluttransfusionen. Während ich darauf wartete, dass mein Knochenmark auf die erhoffte Weise reagierte, dehnte sich die Zeit endlos. Ich dachte viel an meine Kinder und fürchtete, sie nicht aufwachsen zu sehen. Auch dachte ich an meine Rückkehr auf die Bühne, wobei ich mir Sorgen um meine Stimme machte. Während der ganzen im Krankenhaus verbrachten Zeit habe ich mir nie eine Vollnarkose geben lassen, damit man mich nicht intubieren musste, denn ich war überzeugt, dass ich wieder singen würde, sofern es den Ärzten gelang, die Krankheit zu besiegen. Ich habe in Seattle viel Musik gehört. Insbesondere Rachmaninows zweites Klavierkonzert hat mir sehr geholfen, auch wenn ich nicht weiß, warum. Es begleitete mich und gab mir die Kraft, die ich brauchte, um die schwierigsten Augenblicke zu überstehen. Wenn ich es mir anhörte, kam es mir vor, als schütze mich eine übernatürliche Macht. Ich kenne den Grund dafür nicht und konnte es mir auch danach nicht erklären, aber es ist wie heilender Balsam. Jemand – ich weiß nicht einmal mehr,
wer – hatte mir eine Kassette mit diesem Konzert geschenkt, und es begeisterte mich so sehr, dass ich schließlich geradezu süchtig danach wurde, sie abzuspielen, damit es mir die Kraft gab, durchzuhalten. Noch heute höre ich es mir in schwierigen Augenblicken gern an. Man könnte es meine Hintergrundmusik in Seattle nennen.
Aus dem zeitlichen Abstand heraus erinnert sich Carreras an jene Tage, da er sich besorgt fragte, ob er seinen vierzehnjährigen Sohn Albert und seine neunjährige Tochter Júlia würde heranwachsen
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