Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
italienischen Ancona dorthin gebracht hatte, standen infolge des monatelang andauernden Beschusses der Stadt von den umliegenden Bergen herab nur noch wenige ihrer Paläste. Das zur Erinnerung an die Olympischen Winterspiele 1984 eingerichtete Museum lag ebenso in Trümmern wie die Gazi-Husrev-Beg-Bibliothek, das Institut für Orientstudien und die Nationalbibliothek. Im zerschossenen Gemäuer jenes im 19. Jahrhundert im maurischen Stil als Rathaus (Vijećnica) errichteten Gebäudes fand die Aufführung von Mozarts Requiem statt, an der auch der Bassbariton Ruggero Raimondi, die Sopranistin Cecilia Gasdia und die Mezzosopranistin Ildikó Kómlosi mitwirkten. Zubin Mehta, der es sich zur Leitlinie seines Lebens gemacht hat, für den Frieden zwischen den Völkern einzutreten, dirigierte das philharmonische Orchester von Sarajevo. Die Vijećnica, von der nur noch die Außenmauern standen, war ein Symbol für die Kraft der bosnischen Kultur gewesen. Der Autor und Lyriker Goran Simic hat, nachdem er in der Nacht vom 25. auf den 26. August 1992 Zeuge der Beschießung der Vijećnica geworden war, der über zwei Millionen Werke, unter ihnen die gesamte Sammlung von Inkunabeln, zum Opfer gefallen sind, nachstehenden herzzerreißenden Text verfasst:
Die Nationalbibliothek hat an den letzten drei Augusttagen gebrannt, und die Stadt ist an schwarzem Schnee erstickt. / Nachdem die Haufen verweht waren, trieben die Buchstaben durch die Straßen und vermischten sich mit den Vorübergehenden und den Seelen der gefallenen Soldaten. / Auf dem zerstörten Friedhofsweg habe ich Werther gesehen, wie auch Quasimodo, der sich mit einer Hand an einem Minarett festhielt und schaukelte. / Raskolnikow und Meursault haben tagelang im Keller meines Hauses miteinander getuschelt; Gavroche ist in einem verblichenen Flecktarn-Kampfanzug vorüberstolziert; Yossarian war bereit, sich dem Feind zu ergeben, und in der Ferne ist Tom Sawyer für eine Handvoll Dinar von der Fürstenbrücke gesprungen./Jeden Tag werden es mehr Gespenster und weniger lebende Menschen. Der entsetzliche Verdacht hat sich bestätigt, als die Gerippe auf mich
fielen. / Ich habe mich im Hause eingeschlossen, in Reiseführern geblättert und bin erst wieder hinausgegangen, als mir das Radio sagte, auf welche Weise es gelungen war, zehn Tonnen Kohle aus dem tiefsten Keller der niedergebrannten Nationalbibliothek heraufzuholen.
Ein Foto der Nachrichtenagentur Reuters zeigt das Eintreffen der Gruppe, zu der Carreras gehörte, am Flughafen von Sarajevo. Man sieht, wie der katalanische Tenor und der Dirigent Zubin Mehta in Splitterschutzweste und Schutzhelm, den Frack im Kleidersack tragend, den anderen vorangehen. Prägnanter könnte eine Aufnahme die damalige Situation nicht einfangen. Die Musiker sind einen Tag vor dem Konzert eingetroffen und am Tag danach wieder abgereist. Für jeden von ihnen war es eine außergewöhnliche Erfahrung, die sie tief bewegt hat.
Als das Orchester und der Chor von Sarajevo Mozarts Requiem anstimmten, überlief uns alle ein Schauer, und Zubin Mehta konnte seine Rührung nicht verbergen. Uns war bewusst, dass viele Musiker bei den Kampfhandlungen Angehörige verloren hatten, sodass man beide Klangkörper durch Instrumentalisten und Sänger aus umliegenden Orten hatte verstärken müssen. Auch hatten wir Kleidung, Noten und sogar Violinsaiten mitbringen müssen, weil es aufgrund der Beschießung der Stadt an so gut wie allem fehlte. Das unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen stehende Konzert war ein ganz außergewöhnliches Ereignis und wurde in vierzig Länder übertragen, während an Ort und Stelle aus Sicherheitsgründen nur eine geringe Zahl von Zuhörern dabei sein konnte – unter ihnen der Präsident der Republik Bosnien-Herzegowina, Alija Izetbegović. Es war ein sonderbares Gefühl, inmitten von Ruinen und umgeben von schussbereiten Soldaten zu singen. Wenn man den Blick zum Himmel hob, sah man die Wolken dahinziehen, denn es gab kein Dach: Eine Granate hatte es vollständig weggerissen. Wir waren dort, um auf unsere Weise der Welt zu sagen, dass es nichts Grausameres gibt als den Krieg; gleichzeitig
wollten wir mit unserem Konzert Gelder aufbringen, die einer großen Zahl von Menschen in einer verzweifelten Situation helfen sollten. Jeder von uns hat an diesem späten Abend sein Bestes gegeben.
José Carreras hat sich achtundvierzig Stunden in Sarajevo aufgehalten. Untergebracht war er im Holiday Inn im östlichen Teil der
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