Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Stadt, nur wenige Schritte von der Stadtmitte und kaum eine Viertelstunde vom Flughafen entfernt. In jenem Hotel hatten sich während der Belagerung der Stadt die Medienvertreter aufgehalten. Zwar versprachen seine festen Mauern einen gewissen Schutz, und die Kellerräume konnten als Zuflucht dienen, doch war es nirgendwo in der Stadt so gefährlich wie auf der unmittelbar vor dem Hotel verlaufenden und als »Allee der Heckenschützen« verrufenen Straße. Für eine gewisse Sicherheit sorgten inzwischen die seit gut drei Monaten in Sarajevo stationierten UN-Blauhelme, die Carreras und die anderen Mitwirkenden an jenem Konzert in Jeeps zum Hotel eskortierten. Da man den Musikern davon abgeraten hatte, zu Fuß in die Stadt zu gehen, verbrachten sie den größten Teil ihrer Zeit auf dem Zimmer. Am Empfang teilte man ihnen mit, um welche Uhrzeiten Wasser zur Verfügung stand – es war rationiert –, und wies sie darauf hin, dass sie sich nicht wundern sollten, wenn sie nachts Gefechtslärm hörten, denn der Krieg gehe in geringer Entfernung von der Hauptstadt weiter. Da sich die Besucher gern ein Bild von den Verwüstungen des Krieges machen wollten, organisierten UN-Offiziere eine kurze Rundfahrt in gepanzerten Fahrzeugen, deren Weg durch die Stadt von Soldaten als Vor- und Nachhut gesichert wurde. Der Anblick, der sich bot, war trostlos: Zwei Drittel der Gebäude waren durch Artillerieeinwirkung zerstört, und wer von den Bewohnern nach wie vor dort ausharrte, durchlebte dramatische Tage. Seit an einem Apriltag im Jahre 1992 vom serbischen Präsidenten Slobodan Milošević in Marsch gesetzte Mörser, Artilleriegeschütze und Panzer auf den stillen, leuchtenden Hügeln einen Belagerungsring um die Stadt gebildet hatten, war sie zweiundzwanzig Monate lang beschossen worden. Damit wollte Milošević die Herrschaft über Bosnien-Herzegowina zurückgewinnen, das sich nach einer Abstimmung aus dem Vielvölkerstaat Jugoslawien herausgelöst hatte. Mit
der Belagerung begann der Leidensweg der Menschen in der Stadt, die Tag für Tag einen wahren Granatenhagel über sich ergehen lassen mussten. An den letzten Wintertagen des Jahres 1994, kurz nachdem bei einem verbrecherischen Angriff auf den Markt Sarajevos über sechzig Menschen getötet und zweihundert verletzt worden waren, hatte eine Intervention der NATO und der Vereinten Nationen eine Feuereinstellung für die bosnische Hauptstadt erreicht.
Nie werde ich die beiden in Sarajevo verbrachten Tage vergessen. Der Mut der Leute dort hat mich sehr beeindruckt. Noch heute habe ich vor Augen, wie nach dem Konzert Zuhörer zu uns getreten sind, um uns für unseren Beistand wie auch dafür zu danken, dass wir eine Botschaft der Hoffnung ausgesandt und der ganzen Welt gezeigt hatten, was für ein entsetzliches Massaker dort verübt worden war. »Sie können sich nicht vorstellen, welches Geschenk es für uns bedeutet, dass Menschen wie Sie heute hier sind«, hat mir ein Mann aus dem Publikum gesagt. Der Bürgermeister der Stadt hat mir sichtlich bewegt mitgeteilt, es sei für die Bewohner äußerst wichtig zu sehen, dass man sie in ihrem Schmerz nicht alleinlasse. Bei alldem musste ich unwillkürlich denken, wie privilegiert wir Künstler dadurch sind, dass wir mit Aktionen wie dieser unsere Solidarität unmittelbar bekunden können. So betrachtet, hatten uns die Leute dort mit ihren Worten ein Geschenk gemacht, weil sie uns das Gefühl gaben, bessere Menschen zu sein. Davon abgesehen hat mich Mozarts Requiem mit seiner überirdischen Schönheit schon immer beeindruckt. In diesem Werk tritt der Komponist dem Tod gelassen gegenüber und setzt sich mit dem Mysterium des Glaubens auseinander. Während ich sang, ging mir durch den Kopf, dass die Komposition für einen so intensiven Augenblick wie diesen geschaffen worden sein musste, den wir alle, die Sänger, die Zuhörer und sicherlich auch jene durchlebten, die der Aufführung zu Hause im bequemen Fernsehsessel folgten.
Die Kritiken hoben hervor, von welch erstaunlich hoher Qualität die Aufführung von Mozarts Requiem trotz der Unsicherheit des Veranstaltungsortes gewesen sei, zumal es am Tag der Ankunft der Sänger praktisch keine Möglichkeit zu einer Probe gegeben hatte. Welche emotionale Belastung dieser Auftritt bedeutete, ließ sich in jeder Hinsicht erkennen, insbesondere an den Gesichtern der Orchestermitglieder und der Chorsänger, von denen einige an manchen Stellen, so beim »Dies irae«, ihre Tränen nicht
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