Auschwitz
Mädchen« sie »packte und anschrie«.
Linda hatte nur den einen Wunsch, so schnell wie möglich in die Slowakei zurückzukehren. Andere träumten von einem neuen Leben in Amerika oder Israel, aber sie wollte nur nach Hause. Und so begann ihre lange Reise zusammen mit anderen slowakischen Ex-Häftlingen durch ein vom Krieg verwüstetes Europa, dessen Bahngleise zerstört und Straßen zerbombt waren. In Berlin sahen sie deutsche Kriegsgefangene Straßen planieren und riesige Schlaglöcher auffüllen. Der Anblick von Mitgliedern der »Herrenrasse«, die körperliche Arbeit verrichteten, begeisterte Linda und die anderen Frauen so sehr, daß sie den Soldaten der Roten Armee, der sie beaufsichtigte, fragten, ob sie mit ihnen reden könnten. Er willigte ein, und die Frauen begannen sie zu verhöhnen und herumzukommandieren: »Schnell! Schnell! Beeilt euch! Beeilt euch!« Mehr noch als bei der »Plünderung« des deutschen Hauses wurde Linda Breder nun bewußt, daß sie nie mehr Angst vor den Deutschen haben mußte. Sie würde nie mehr die Panik in ihrem Herzen spüren müssen, wenn Selektionen vorgenommen wurden, und fürchten müssen, daß man sie zum Tode verurteilte.
Hinter Berlin gingen sie zu Fuß, da es kein anderes Transportmittel gab. Eines Tages, als sie eine staubige Landstraße entlanggingen – es war im heißen Sommer des Jahres 1945 – hielten ein paar Soldaten der Roten Armee an und boten ihnen an, sie ein Stück mitzunehmen. Linda und die anderen Frauen »hatten wirklich Angst, da sie oft Mädchen vergewaltigten«, aber sie waren müde vom Laufen und kletterten trotz ihrer Furcht auf den Lastwagen. Nach ein paar Kilometern hielten die Soldaten plötzlich an und raubten sie aus. »Sie stahlen sogar die Dinge, die wir den Deutschen gestohlen hatten«, sagt Linda Breder. »Aber wenigstens kamen wir mit heiler Haut davon.«
Und so setzten sie ihren beschwerlichen Fußmarsch fort. Ab und zu wurden sie ein Stück mitgenommen, aber den größten Teil der Strecke legten sie zu Fuß zurück. Schließlich erreichten sie Prag, wo Linda und ein paar der anderen Frauen Zuflucht fanden. Aber Linda war noch immer von dem Wunsch beseelt, so rasch wie möglich heim in die Slowakei zu kommen. Sobald der Zug wieder zwischen Prag und Bratislawa, der Hauptstadt der Slowakei, verkehrte, reiste Linda zu ihrer Familie nach Stropkov im Osten der Slowakei. Endlich, nach über drei Jahren Abwesenheit, nach ihrer Deportation in Güterwagen, nach den Entbehrungen und den Qualen in Auschwitz und der mühevollen Reise von Norddeutschland nach Hause, endlich hatte sie das Ziel erreicht, von dem sie so lange geträumt hatte: Sie stand vor ihrem Elternhaus! Aber es schien jetzt von Fremden bewohnt zu sein. Sie klopfte an die Tür, die kurz darauf von einem Russen oder Ukrainer geöffnet wurde. »Was willst du?« fragte er unfreundlich. »Ich bin nach Hause gekommen«, antwortete sie. »Geh dorthin zurück, wo du herkommst!« sagte er und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Linda war wie betäubt. Sie ging die Hauptstraße ihres Heimatorts entlang, als ihr plötzlich bewußt wurde, daß sämtliche Häuser, die früher ihren Freunden und Verwandten gehört hatten, jetzt von Sowjetbürgern bewohnt wurden: »Als ich in die Fenster dieser Häuser sah, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden.« Nur die nichtjüdische Bevölkerung des Ortes lebte noch dort, und da Linda und ihre Familie früher freundlichen Umgang mit ihnen gepflegt hatten, dachte sie, sie würden sie willkommen heißen. Aber sie täuschte sich. »Ich erkannte eine Frau«, sagt Linda, »aber sie kam nicht heraus, um mir zu sagen: ›Ich freue mich, dich zu sehen.‹ Alle hielten Abstand, als hätte ich eine ansteckende Krankheit oder so. Am nächsten Tag verließ ich diesen Ort und bin nie mehr dorthin zurückgekehrt. Zurückzukommen war mein schlimmstes Erlebnis. Es war wirklich niederschmetternd.«
Linda Breders Schicksal teilten viele Überlebende, nicht nur ehemalige Gefangene von Auschwitz, sondern auch von anderen Lagern. In der Gefangenschaft hatte sie der Gedanke an ihr Zuhause aufrechterhalten, die Hoffnung, nach dem Krieg wieder ihr altes Leben aufnehmen zu können. Aber das war unmöglich. Linda Breder kehrte schließlich der Slowakei den Rücken und wanderte nach Kalifornien aus.
Walter Fried 16 ist ein weiterer slowakischer Jude, der im Sommer 1945 in seine Heimat zurückkehrte. Er war 17 Jahre alt und mit seiner Familie in einem Arbeitslager in der
Weitere Kostenlose Bücher