Auschwitz
Stuhl, drehte ihn um und zeigte dem Mann, daß dort sein Familienname stand, woraufhin dieser meinte: ›Herr Blatt, warum die Komödie mit dem Stuhl? Ich weiß, warum Sie hier sind.« Toivi blickte ihn amüsiert an. »Sie sind wegen des versteckten Geldes gekommen«, fuhr der Mann fort. »Wir könnten es teilen: 50 Prozent für Sie und 50 für mich.« Wütend verließ Toivi Blatt das Haus und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Es gibt ein passendes Nachspiel zu dieser Geschichte. Als er das nächste Mal nach Izbica kam, lag Toivis Elternhaus in Trümmern. Er fragte die Nachbarn, was passiert sei. »Oh, Herr Blatt«, sagten sie, »nachdem Sie gegangen waren, konnten wir keine Nacht mehr schlafen, weil er Tag und Nacht nach dem Schatz suchte, den Sie angeblich vergraben hatten. Er nahm den Fußboden auseinander, die Wände, einfach alles. Und dann stellte er fest, daß es zuviel Geld kosten würde, das Ganze wieder zu reparieren. Deshalb steht dort jetzt eine Ruine.«
Während die Nachkriegserfahrungen von Toivi Blatt, Linda Breder und Walter Fried die dunkle und deprimierende Seite der menschlichen Natur widerspiegeln, zeugen die Beispiele aus einem anderen Teil Europas von Nächstenliebe. Als die dänischen Juden in ihre Heimat zurückkehrten – die Mehrzahl aus dem schwedischen Exil, einige aus dem Ghetto Theresienstadt –, wurden sie herzlich empfangen. »Es war nicht wie an anderen Orten, wo sich Fremde den Besitz von Juden unter den Nagel gerissen und sich dort häuslich eingerichtet hatten«, erzählt Bent Melchior. 18 »Hier war nichts angerührt worden.« Nach der Rückkehr der Familie Melchior kündigte der Besitzer ihres Hauses den jetzigen Mietern, und nach drei Monaten führten sie dasselbe Leben wie vor ihrer Deportation. Ihr Hausbesitzer hatte sogar ihre Möbel für sie aufbewahrt.
Rudy Bier 19 und seine Familie fanden ebenfalls ihre Wohnung bei ihrer Rückkehr »tadellos in Ordnung« vor. Ihre Freunde hatten während ihrer jahrelangen Abwesenheit die Miete bezahlt. »Es war ein wunderbares Gefühl«, sagt er, »erwartet zu werden.« Nur die Freude der Eltern seiner Frau war bei ihrer Rückkehr etwas getrübt. Sie hatten eine frisch geschlachtete Ente in ihrer Wohnung zurückgelassen, die, als sie 18 Monate später zurückkamen, verwest war. Danach aß seine Schwiegermutter ihr Leben lang keine Ente mehr.
Wie wir gesehen haben, erging es den dänischen Juden im allgemeinen besser als den polnischen oder slowakischen. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. In den von der Sowjetunion besetzten Gebieten war es Juden aufgrund des neuen politischen Systems praktisch unmöglich, ihren Besitz zurückzubekommen, da der kommunistischen Lehre zufolge Privateigentum verpönt war. Die Nichtjuden, die in die ehemaligen Häuser oder Wohnungen von Juden gezogen waren, konnten zu Recht behaupten, daß sie staatliches Eigentum bewohnten und dafür Miete bezahlten (wie im Fall der Frieds der neue Pächter ihres Restaurants). Außerdem war es nicht im Interesse der Nichtjuden in jenen Ländern, ihr Verhalten während der Besatzung und der Judenverfolgung zu hinterfragen und gegenüber den zurückgekehrten Juden Rechenschaft abzulegen. Das Bestreben der Sowjetunion, den Völkermord nur als Bestrafung für »Gegner des Faschismus« hinzustellen, trug mit dazu bei, daß viele Nichtjuden im Osten die traumatischen Ereignisse aus den Tagen der »Endlösung« aus ihrem Gedächtnis verbannten, da sie zu viele unangenehme Fragen aufwarfen.
Zahlreiche Beispiele zeigen, wie schwer es für die meisten Menschen ist, gegen die vorherrschenden kulturellen Normen aufzubegehren. Das Verhalten von Walter Frieds altem Freund Josho war nicht das Ergebnis einer bewußt getroffenen Entscheidung, sondern resultierte vielmehr aus seinen veränderten Lebensumständen unter dem neuen sowjetischen Regime. Zudem erinnerten ihn die zurückgekehrten Juden an eine Vergangenheit, der er gern vergessen wollte. Man hat immer eine Wahl, aber oft ist es leichter, mit dem Strom zu schwimmen, wofür man selbst Antisemitismus und Judenverfolgung in Kauf nimmt.
Die Dänen andererseits wurden nicht mit derartigen Schwierigkeiten konfrontiert. Weil sie sich im Herbst 1943 den von den Nationalsozialisten geforderten Deportationen widersetzt hatten, konnten sie die zurückkehrenden Juden ohne schlechtes Gewissen willkommen heißen. Ökonomisch, politisch, vielleicht sogar moralisch war es direkt nach dem Krieg leichter, ein Däne zu sein
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