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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Rees
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alle waren vollkommen ausgemergelt.« Diese Sowjetsoldaten waren die ersten Gefangenen, die eine Nummer eintätowiert bekamen. Noch eine »Verbesserung« in Auschwitz, dem einzigen Lager im NS-Staat, das seine Insassen so identifizierte. Das Verfahren wurde wohl eingeführt wegen der hohen Todesrate: Es war leichter, eine Leiche nach einer Tätowierung zu identifizieren als nach einer Marke um den Hals, die leicht verlorengehen konnte. Anfangs wurden die Nummern nicht auf den Arm tätowiert, sondern mit spitzen Nadeln auf die Brust gestanzt; die Wunden wurden dann mit Tinte gefüllt. Wie Kazimierz Smoleń beobachtete, waren viele Gefangene dem brutalen Aufnahmeverfahren schlicht nicht gewachsen: »Sie konnten sich kaum bewegen, und wenn der Tätowierungsstempel sie traf, fielen sie hin. Sie mußten gegen die Wand gelehnt werden, damit sie nicht umkippten.«
    Von den 10 000 sowjetischen Gefangenen, die in diesem Herbst Birkenau zu bauen begannen, waren im folgenden Frühling nur noch ein paar hundert am Leben. Einer der Überlebenden war ein Soldat der Roten Armee namens Pawel Stenkin 9 . Er war knapp zwei Stunden nach Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 von den Deutschen gefangengenommen und zunächst in ein riesiges Lager hinter den deutschen Linien gebracht worden, wo er und Tausende anderer sowjetischer Kriegsgefangenen wie Tiere eingepfercht und nur mit dünner Suppe ernährt wurden. Seine Kameraden begannen zu verhungern, aber er sagt, er habe überlebt, weil er daran gewöhnt gewesen sei. Er war »seit der Kindheit hungrig«, weil er in den dreißiger Jahren auf einer Kolchose aufgewachsen war. Stenkin kam mit einem der ersten Transporte im Oktober in Auschwitz an und mußte sofort anfangen, die neuen Ziegelstein-Baracken zu bauen. »Die durchschnittliche Lebenszeit für einen Sowjetsoldaten in Birkenau betrug zwei Wochen«, sagt er. »Wenn du etwas Eßbares fandest, mußtest du es herunterschlucken. Rohe Kartoffel oder nicht – egal. Schmutzig, nicht schmutzig, alles gleich, man kann es nirgends waschen. Morgens beim Aufstehen bewegten sich die, die noch lebten, und um sie herum lagen zwei oder drei Tote. Du gehst ins Bett und du lebst, und morgens bist du tot. Tod, Tod, Tod. Tod abends, Tod morgens, Tod nachmittags. Die ganze Zeit Tod.«
    Da diese Sowjetgefangenen bei der Aufnahme registriert worden waren und eine Nummer bekommen hatten, bekam die Verwaltung in Auschwitz ein neues Problem – wie sollten die Tausende von Sterbefällen im Totenbuch erklärt werden? Die Lösung war, daß man sich eine Reihe von Krankheiten ausdachte, an denen die Gefangenen hätten gestorben sein können. So sind zum Beispiel 600 als an »Herzanfällen« gestorben registriert. 10 (Mit diesem Problem wurde die Verwaltung später, bei der Ankunft der Juden, dadurch fertig, daß sie die große Mehrheit, die für den sofortigen Tod selektiert wurde, gar nicht erst registrierte.)
    »Sie wurden als die niederste Kategorie von Menschenwesen betrachtet«, sagt Kazimierz Smoleń, der in Birkenau mit den sowjetischen Kriegsgefangenen zusammenarbeitete. »Sie wurden von den SS-Männern noch mehr geschlagen und schikaniert. Sie sollten vernichtet werden. Sie starben wie die Fliegen.« Höß liefert viele Hinweise auf solches Leiden in seinen Erinnerungen, aber nirgendwo befaßt er sich mit der Frage, weshalb die sowjetischen Kriegsgefangenen auf dieses Stadium reduziert waren. 11 Daß er und seine SS-Kameraden für den Tod von 9000 der 10 000 sowjetischen Kriegsgefangenen innerhalb von sechs Monaten verantwortlich waren, scheint ihm entgangen zu sein. Und es ist klar, weshalb Höß keine Schuld empfindet: Wenn diese Gefangenen sich »wie Tiere« verhielten, dann taten sie genau das, was die NS-Propaganda vorhergesagt hatte. Die Nationalsozialisten hatten wieder einmal dafür gesorgt, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung ging.
    Eine Hoffnung hatte Pavel Stenkin, als er da krank und hungrig in Birkenau Schwerstarbeit leistete und die Kameraden um sich herum sterben sah. Er wußte ja, daß er sterben würde, aber »in Freiheit sterben, das war mein Traum. Sollten sie mich doch erschießen – aber als freien Mann!« Also planten er und eine Handvoll seiner Kameraden die Flucht, wohl wissend, daß die Erfolgschancen gering waren. Ihr Plan hätte nicht schlichter sein können. Eines Tages im Frühjahr 1942 wurden sie losgeschickt, um die Leiche eines anderen Gefangenen zu bergen, die eben außerhalb der Lagergrenzen lag. Als sie die

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