Auschwitz
Stacheldrahtumzäunung passiert hatten, brüllten sie »Hurra!« und rannten in verschiedene Richtungen davon. Die Posten in den Wachtürmen waren kurzfristig verwirrt und richteten ihre Maschinengewehre erst auf die Russen, als die bereits den Schutz des nahen Waldes erreicht hatten. Nach einer monatelangen abenteuerlichen Wanderschaft erreichte Pavel Stenkin sowjetisch besetztes Gebiet, wo aber sein Leiden, wie wir in Kapitel 6 sehen werden, nicht zu Ende war.
Als im Oktober 1941 die Architekten das neue Lager Birkenau planten, entwarfen sie auch ein neues Krematorium, das das alte im Hauptlager ersetzen sollte. Dabei wurde der Einbau eines Lüftungssystems und das Versenken der Belüftungsrohre geplant. Neuere Forschungen 12 lassen vermuten, daß das neue Krematorium auch in eine Gaskammer sollte verwandelt werden können. Diese Ansicht wird von anderen Forschern bezweifelt; sie weisen darauf hin, daß auf den Plänen in den Gebäuden keine Möglichkeit zum Einfüllen von Zyklon B vorgesehen war. Aber selbst wenn die SS-Planer meinten, das neue Krematorium sollte die gleichen Funktionen erfüllen können wie das alte, in dem gerade wenige Wochen zuvor begrenzte Vergasungsversuche entsprechend dem in Block 11 vorgenommenen durchgeführt worden waren, gibt es keinen Beweis, daß zu diesem Zeitpunkt Auschwitz große neue Vernichtungskapazitäten vorbereitete.
In diesem Oktober, als Architekten Birkenau planten und sowjetische Gefangene es zu bauen begannen, kamen Lucille Eichengreen und die anderen Hamburger Juden in Łódz in Mittelpolen an; es war die erste Station auf ihrer langen Reise nach Auschwitz. Was sie an diesem ersten Tag im Ghetto zu sehen bekamen, erschütterte sie. »Wir sahen die Abwässer im Rinnstein fließen«, sagt Lucille. »Wir sahen baufällige alte Häuser, wir sahen ein Viertel, das einem Slum ähnelte – wir hatten zwar alle noch keine Slums kennengelernt, aber wir nahmen das an. Wir sahen die Menschen im Ghetto, und sie wirkten müde, erschöpft, und sie beachteten uns nicht. Wir wußten nicht, was für ein Ort das war. Das alles schien uns vollkommen sinnlos.«
Als Lucille ankam, war das Ghetto Łódz seit 18 Monaten von der Außenwelt abgeschlossen. Krankheiten und Hunger wüteten unter den Bewohnern; im Laufe seiner Existenz sollten mehr als 20 Prozent der Menschen im Ghetto sterben. Die Bedingungen waren grauenvoll, und es lebten schon 164 000 Juden auf vier Quadratkilometern zusammengepfercht. 13
Anfangs hatten die Deutschen die Juden von Łódz in dem Ghetto eingesperrt und ihnen keinerlei Möglichkeit gegeben, Geld zu verdienen, mit dem sie Lebensmittel bezahlen konnten. Arthur Greiser, »Reichsstatthalter« des Warthegaus, wollte die Juden zwingen, ihre Wertsachen herzugeben, indem er sie mit dem Hungertod bedrohte. Unter solchen Umständen zu überleben verlangte Erfindungsgabe. Jacob Zylberstein 14 , einer der ersten dort gefangenen Łódzer Juden, handelte mit Polen, die gleich außerhalb des Zauns wohnten, der das Ghetto umgab. Er schloß einen Handel ab mit einem Mann, der bereit war, ihm täglich ein Brot über den Zaun zu werfen. Die eine Hälfte des Brots aß Jacob, den Rest verkaufte er und gab das eingenommene Geld durch den Zaun dem Polen, der dabei gut verdiente: »Zwei Monate half er uns … Dann wurde er geschnappt, und sie brachten ihn um. Aber zwei Monate sind eine sehr lange Zeit.« Andere Juden verkauften Diamantringe oder anderen Schmuck für Nahrungsmittel. Dadurch konnten Polen und Volksdeutsche auf der anderen Seite des Zauns ein Vermögen machen. »Wenn ich für 100 Mark etwas bekam, das 5000 wert war, wäre ich doch blöd gewesen, es nicht zu kaufen«, sagte Egon Zielke 15 , ein in Łódz lebender Volksdeutscher, der zugibt, riesigen Profit gemacht zu haben bei seinen Geschäften mit Ghettoinsassen. »An einem Ring konnten sie [die Juden] nicht knabbern, aber wenn sie ein Stück Brot dafür bekamen, konnten sie einen oder auch zwei Tage überleben. Dafür braucht man kein Geschäftsmann zu sein – so ist das im Leben.«
Im August 1940 war den Nationalsozialisten eigentlich klar, daß die Juden nichts mehr »horteten«, denn sie hatten angefangen zu verhungern. Die deutschen Behörden hatten sich in ihrem engstirnigen Denken nicht auf diese unausweichliche Krise vorbereitet. Jetzt mußten sie eine Entscheidung treffen: Sollten sie die Juden verhungern lassen oder ihnen erlauben zu arbeiten? Der deutsche Leiter der Ghettoverwaltung, Hans Biebow, war
Weitere Kostenlose Bücher