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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Rees
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in Kauf nahmen. Er hatte sogar erlebt, wie Angehörige der Jüdischen Brigade Deutsche töteten, über die sie nicht das Geringste wußten: »Manche von ihnen handelten aus einem Impuls heraus. Einer hatte einen Bruder und eine Mutter, die ermordet worden waren. Und als wir in Deutschland oder Österreich waren, konnte es passieren, daß sie irgendwo einen Deutschen auf dem Fahrrad sahen und ihn einfach über den Haufen fuhren.«
    Moshe Tavor berichtet, daß er selbst an »ungefähr fünf« solcher »Rachemorde« und seine Kameraden an »rund 20 Hinrichtungen beteiligt« gewesen seien. Da sie ihre Aktionen streng geheimhielten, lassen sich Tavors Aussagen im einzelnen natürlich nicht nachprüfen. Er vermeidet es peinlichst, Namen von Opfern oder Schauplätzen zu nennen. Möglicherweise gingen sie weit weniger systematisch vor, als er es darstellt; vielleicht kam es nur zu vereinzelten Morden an einem »verdächtigen« Deutschen (auch fragt sich, ob sie sich bei ihren Racheakten tatsächlich auf »Nachrichtenmaterial« stützten). Allerdings gibt es Beweise 22 , darunter der Augenzeugenbericht des ehemaligen Stabschefs der israelischen Armee Hain Laskov, die keinen Zweifel daran lassen, daß Mitglieder der Jüdischen Brigade tatsächlich »Rache«-Morde verübten; auch weiß man von weiteren jüdischen »Rächern«, die versuchten, das Trinkwasser eines Lagers zu vergiften, in dem SS-Angehörige inhaftiert waren. 23
    Moshe Tavor und die anderen Brigademitglieder hatten für ihre Taten ein klares Motiv: Sie wollten für die Ermordung der Juden, zum Teil ihrer eigenen Angehörigen, Vergeltung üben. Aber ganz so einfach ist es nicht. Es gab noch einen weiteren Grund für ihr brutales, erbarmungsloses Vorgehen: das diffuse Gefühl, daß sich die Juden, die von den Deutschen unterdrückt, verfolgt und schließlich umgebracht worden waren, nicht genügend zu Wehr gesetzt hatten. »Ich konnte nicht begreifen, wie sechs oder acht deutsche Soldaten 150 Leute auf Lkw verfrachten und wegbringen konnten«, sagt Tavor. »Ich glaube, ich hätte mich eher auf einen dieser Deutschen gestürzt und erschießen lassen; dann hätte ich es wenigstens hinter mir gehabt. Aber ich bin eben anders als diese Juden, die damals in Polen auf dem Land lebten. Als Kinder haben wir immer gespielt, wir wären große jüdische Helden und würden Krieg führen. Ich fühle mich dem Volk, daß vor 2000 Jahren hier [in Israel] gekämpft hat, sehr verbunden, und ich empfand keine solche Verbundenheit mit den Juden, die sich wie Schafe zur Schlachtbank führen ließen. Ich konnte das nicht verstehen.«
    Moshe Tavor steht mit seiner Haltung nicht allein. Ehemalige Lagerhäftlinge, die sich nach dem Krieg in Israel niederließen, berichten, daß sie sich dem unausgesprochenen Vorwurf gegenübersahen, nicht genügend gegen die Nationalsozialisten aufbegehrt zu haben. Als hätten Frauen und Kinder in den osteuropäischen Ghettos irgendeine Möglichkeit gehabt, Widerstand zu leisten. Doch viele konnten nicht verstehen, daß sich die Juden »wie Schafe zur Schlachtbank« hatten führen lassen. Falls Männer wie Tavor aus der »Endlösung« eine Lehre zogen – eine, die sich tief in die Seele des neuen Staates Israel eingraben sollte –, so war es die: Nie wieder dürfen sich Juden kampflos ihren Feinden ergeben.
    Während Moshe Tavor das Gesetz selbst in die Hand nahm, um an den Deutschen Vergeltung zu üben, gingen die Alliierten daran, die NS-Täter auf legalem Wege zur Verantwortung zu ziehen. Anfangs hatten sie keinen großen Erfolg. Die meisten SS-Angehörigen, die in Auschwitz gearbeitet hatten, blieben unmittelbar nach Kriegsende unerkannt. Führende Männer wie Dr. Mengele und Rudolf Höß wurden zwar festgenommen, mußten aber nach kurzer Zeit wieder freigelassen werden. Da Mengele keine Blutgruppentätowierung unter dem Arm trug, war er nicht als SS-Mann zu identifizieren. Höß wiederum, der sich als Angehöriger der deutschen Kriegsmarine ausgab, wurde erst gar nicht auf eine Tätowierung hin untersucht.
    Doch im Herbst 1945 kamen die Abteilung zur Aufklärung von Kriegsverbrechen der 21. Army Group und der britische Geheimdienst Rudolf Höß auf die Spur. 24 Nach der Befreiung Bergen-Belsens konnten sich die Briten zum ersten Mal ein genaueres Bild von Höß’ Vergangenheit machen. Die systematische Befragung der Überlebenden enthüllte zahlreiche neue Fakten; viele berichteten erschüttert über ihre Erlebnisse in einem anderen Lager in

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