Auschwitz
Tor war geschlossen, und rechts davon stand ein SS-Mann mit einem Maschinengewehr, und links stand ein Tisch mit einem Stuhl, auf dem ein SS-Mann saß. Noch 80 Meter, und Genek schaltete in den zweiten Gang, dann noch 50 Meter, und die Schranke war immer noch unten. Sie konnten den Wagen sehen und uns vier in SS-Uniform, und trotzdem ging die Schranke nicht hoch. Etwa 20 Meter davor sah ich Genek an und konnte die Schweißtropfen auf seiner Stirn und seiner Nase sehen. Nach weiteren fünf Metern dachte ich, ›jetzt bringe ich mich um‹, so wie wir es verabredet hatten. In diesem Augenblick knuffte mich der Priester auf dem Rücksitz in den Rücken – ich wußte, daß sie auf mich rechneten. Also brüllte ich die SS-Männer an: ›Wie lange sollen wir hier noch warten!‹ Ich habe sie beschimpft. Und dann sagte der SS-Mann im Wachturm etwas, und der Mann am Tisch ließ die Schranke hochgehen, und wir fuhren durch. Das war die Freiheit.«
In Hochstimmung fuhren die vier Männer dann durch die polnischen Dörfer, und nach wenigen Minuten lag Auschwitz ein ganzes Stück weit hinter ihnen. Mit Hilfe von Freunden besorgten sie sich Zivilkleider; den Wagen ließen sie irgendwo stehen und tauchten in der polnischen Bevölkerung unter. Der erste Teil ihres Plans – ihre erfolgreiche Flucht – war erfolgreich abgeschlossen.
In Auschwitz selbst ging auch der zweite Teil des Plans auf. Kazimierz Piechowskis List mit dem falschen Arbeitskommando rettete alle bis auf einen der in seinem Block zurückgebliebenen Häftlinge vor schweren Vergeltungsmaßnahmen. Es war allein sein Kapo, der bestraft und in die Hungerzelle von Block 11 geschickt wurde.
Doch wie die weitere Geschichte zeigt, bedeutete eine gelungene Flucht aus Auschwitz nicht zwangsläufig, daß die Leiden der Menschen, die dem Lager entronnen waren, damit ein Ende gehabt hätten. Stanislaw Jaster mußte mit der furchtbaren Nachricht fertig werden, daß seine Eltern zur Vergeltung verhaftet, nach Auschwitz geschickt wurden und dort umkamen. Er selbst verlor sein Leben in Warschau während der Besatzung. 30 Józef, der Priester, war durch seine Erlebnisse in Auschwitz so stark traumatisiert, daß er nach Aussage Piechowskis »wie in Trance herumlief«. Nach dem Krieg wurde er von einem Bus überfahren und tödlich verletzt. Eugeniusz Bendera, der Mann, der überhaupt die Idee zu der Flucht hatte, nachdem sein Name auf der Todesliste stand, mußte bei seiner Heimkehr feststellen, daß seine Frau ihn verlassen hatte. Er wurde zum Trinker und starb bald darauf. Heute ist von den vieren nur noch Kazimierz Piechowski am Leben, und auch er sagt, er befinde sich noch immer in einem »psychischen Aufruhr« als Folge der erlittenen Leiden. In seinen Träumen wird er von SS-Männern mit Hunden angegriffen und erwacht danach »schweißgebadet und mit einem Chaos im Kopf«.
Doch trotz aller Widrigkeiten, denen alle vier nach ihrer dramatischen Flucht aus dem Lager Auschwitz ausgesetzt waren, zweifelte keiner von ihnen jemals daran, daß es für sie die richtige Entscheidung war, alles auf eine Flucht zu setzen. Und wenn sie gewußt hätten, was in Himmlers Kopf vorging, als er im Juli 1942 das Lager besuchte, dann wären sie sich ihrer Sache doppelt so sicher gewesen. Denn das Morden in Polen sollte zunehmen. Am 19. Juli befahl Himmler, daß die »Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis zum 31. Dezember durchgeführt und beendet ist.« 31 In diesem Kontext war »Umsiedlung« ein Tarnwort für »Ermordung«. Damit gab Himmler preis, daß er ein Datum für die Vernichtung von Millionen polnischer Juden festgesetzt hatte.
Die Worte Himmlers waren allerdings weniger ein Befehl für die Zukunft als eine abschließende Erklärung. Denn sie waren das Endresultat eines kumulativen Prozesses von Entscheidungen, der bis in eine Zeit noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion zurückreichte, das letzte Glied in einer Kausalkette, die wir erst in der Rückschau erkennen können. Jede der wesentlichen Entscheidungen, die dieser Erklärung vorangingen – die Entscheidung, die polnischen Juden in Ghettos zu konzentrieren, der Befehl hinter den Massenerschießungen im Osten und die anschließenden Vergasungsexperimente, die Entscheidung, die deutschen Juden zu deportieren und dann nach einer Methode zu suchen, »arbeitsunfähige« Juden in den Ghettos zu töten, um Platz für die deutschen Juden zu schaffen –, alle diese Aktionen und noch einiges
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