Auschwitz
einen Grund: Die Kinder waren für ihn nichts weiter als Rohmaterial für seine Experimente. Vera Alexander erlebte, wie Kinder nach einem Besuch beim »lieben Onkel« schreiend vor Schmerzen ins Lager zurückgebracht wurden.
Mengele, der sich auf Erbbiologie spezialisiert hatte, beschäftigte sich intensiv mit der Zwillingsforschung. Im Lager kursierte das Gerücht, daß er die genauen Gründe für die Entstehung von Mehrlingsschwangerschaften untersuche, um Methoden zu entwickeln, mit denen deutsche Frauen in kürzerer Zeit mehr Kinder zur Welt bringen könnten. Doch wahrscheinlicher ist, daß er sich vor allem für die Rolle der Erbanlagen bei der körperlichen und charakterlichen Entwicklung interessierte, ein Thema, von dem die nationalsozialistischen Wissenschaftler besessen waren.
Eva Mozes Kor 14 war 1944 zehn Jahre alt und wurde gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Miriam für Mengeles Forschungszwecke mißbraucht: »Mengele kam jeden Tag nach dem Appell herein. Er wollte wissen, wieviel Versuchskaninchen er noch hatte. Dreimal in der Woche wurden mir die Arme eingeschnürt, um den Blutfluß zu vermindern, und dann nahmen sie mir eine Menge Blut aus dem linken Arm ab, manchmal so viel, daß ich ohnmächtig wurde. Jedesmal, wenn sie mir links Blut abnahmen, gaben sie mir mindestens fünf Spritzen in den rechten Arm. Nach so einer Injektion wurde ich schwer krank, und am nächsten Morgen kam Dr. Mengele mit vier anderen Ärzten ins Zimmer. Er sah sich meine Fieberkurve an und sagte mit einem sarkastischen Lachen: ›Zu schade, daß sie so jung ist. Sie hat nur noch zwei Wochen zu leben.‹ Ich verlor ständig das Bewußtsein. In diesem Dämmerzustand sagte ich mir immer wieder: ›Ich muß überleben, ich muß überleben.‹ Sie warteten nur darauf, daß ich starb. Wenn ich gestorben wäre, hätten sie meine Zwillingsschwester Miriam sofort in Mengeles Labor geholt und mit einer Injektion ins Herz getötet, und dann hätte Mengele eine vergleichende Autopsie vorgenommen.«
Der Häftlingsarzt Myklos Nyiszli 15 , der Mengele genau beobachtete, bemerkte: »So etwas hatte es in der Geschichte der Medizin noch nie gegeben: Zwei Brüder starben zur gleichen Zeit, so daß man an beiden eine Autopsie durchführen konnte. Wo findet man unter normalen Umständen Zwillingsbrüder, die zur gleichen Zeit am selben Ort sterben?«
Eva Moses Kor überstand den Fieberanfall und rettete damit nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Schwester: »Jemand hat mich mal gefragt: ›Sie sind wohl sehr stark, nicht?‹ Darauf sagte ich: ›Ich hatte keine andere Wahl. Entweder ich hielt durch oder ich ging zugrunde.‹« Ihr erschütterndes Schicksal führt uns vor Augen, worin Mengeles Macht in Auschwitz bestand: Er konnte anderen Menschen antun, was immer er wollte. Es gab keinerlei Beschränkungen für Art und Umfang seiner »medizinischen Experimente«. Er verfügte über die grenzenlose Macht, andere zu quälen und zu töten, um seine sadistische Neugier zu befriedigen. Er experimentierte nicht nur mit Zwillingen, sondern auch mit Kleinwüchsigen und mit Häftlingen, die unter Wangenbrand litten – eine Infektionserkrankung, die im Zigeunerlager in Birkenau aufgrund der miserablen Lebensbedingungen weit verbreitet war. Doch Mengele hätte jederzeit beschließen können, seine Forschungen auf drei oder auch dreißig weitere Gebiete auszuweiten. Bevor er nach Auschwitz kam, war von dem sadistischen, machtgierigen Menschen noch nichts zu spüren. Nach allem, was man hörte, zeichnete er sich an der Ostfront durch besondere Tapferkeit aus; unter anderem rettete er zwei Soldaten aus einem brennenden Panzer. Vor dem Krieg hatte er Medizin studiert und als Assistent am Frankfurter Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene ein relativ unauffälliges Leben geführt. Es waren die besonderen Umstände in Auschwitz, die jenen Mengele zum Vorschein brachten, den die ganze Welt kennenlernen sollte – was wieder einmal zeigt, wie schwer es vorauszusagen ist, wie sich ein Mensch unter außergewöhnlichen Bedingungen entwikkelt.
Mengele war in vieler Hinsicht der Prototyp des SS-Führers in Auschwitz. Der stets perfekt gekleidete Arzt empfand für die Lagerinsassen nichts als Verachtung. Jede Form des vertrauten Umgangs mit den Gefangenen wäre ihm zuwider gewesen, allein der Gedanke an sexuellen Kontakt unvorstellbar. Diese Haltung stand in völligem Einklang mit der nationalsozialistischen Ideologie, denn nach der
Weitere Kostenlose Bücher