Auschwitz
Theresienstadt untergebracht waren. Rund 18 000 Männer, Frauen und Kinder waren hier inhaftiert, bis man das Lager im Juli 1944 schließlich auflöste. Diese Juden waren bei ihrer Ankunft der Selektion entgangen, da die Nationalsozialisten sie für »Propagandazwecke« einzusetzen gedachten. Man befahl ihnen, Postkarten nach Hause zu schreiben, auf denen sie von ihrer guten Behandlung berichten sollten. Mit dieser Maßnahme wollte man Gerüchte zerstreuen, daß Auschwitz ein Vernichtungslager sei. Anders als im Zigeunerlager (der einzige andere Ort in Birkenau, wo Familien zusammenlebten) waren im Familienlager die Männer und Jungen getrennt von den Frauen und Mädchen untergebracht.
Ruth Elias 17 gehörte zu den Gefangenen, die in den Frauenbaracken des Familienlagers lebten. Zweimal hatte sie beobachtet, wie betrunkene SS-Männer Frauen aus den Baracken holten: »Die Mädchen kamen weinend zurück. Man hatte sie vergewaltigt. Sie waren in einer furchtbaren Verfassung.«
Die Tatsache, daß Angehörige der SS in Auschwitz jüdische Frauen vergewaltigten, ist bei näherer Betrachtung, wenn auch schrecklich, so doch nicht verwunderlich. Die SS hatte diese Frauen in ihrer Gewalt und ging davon aus, daß sie früher oder später umgebracht würden. Der Alkohol und die Gewißheit, daß das Verbrechen unentdeckt bleiben würde, fegten etwaige ideologische Bedenken hinweg. Genausowenig erstaunt es vielleicht, daß diese Sexualverbrechen in der älteren Auschwitz-Literatur kaum Erwähnung finden. Schließlich handelt es sich um ein äußerst tabuisiertes Thema, über das die Mißbrauchsopfer lieber Stillschweigen bewahren. Wie Kriminologen seit langem wissen, liegt die Dunkelziffer bei Vergewaltigungen höher als bei allen anderen Verbrechen.
Es scheint, als würden die Vergewaltigungen in Auschwitz unser Bild vom brutalisierten Soldaten, der die Frau des »Feindes« schändet, letztlich doch bestätigen, gäbe es da nicht den Fall eines SS-Manns, der sich in eine jüdische Lagerinsassin verliebte. Die Liebesbeziehung zwischen Helena Citrónavá 18 und Franz Wunsch gehört zu den außergewöhnlichsten Episoden in der Geschichte von Auschwitz. Im März 1942 kam Helena mit einem der ersten Transporte aus der Slowakei nach Auschwitz. Ihre anfänglichen Erfahrungen im Lager bestanden in dem alltäglichen Elend aus Hunger und körperlicher Mißhandlung. In den ersten Monaten arbeitete sie in einem Außenkommando, riß Wände ein und schleppte Schutt. Sie schlief auf einer dünnen Lage Stroh, in dem es von Flöhen wimmelte, und beobachtete mit Entsetzen, wie die anderen Frauen ringsum nach und nach alle Hoffnung aufgaben und starben. Eine ihrer engsten Freundinnen war die erste, die ihr Leben verlor. Sie »sah das alles um sie herum und sagte: ›Ich will keine Minute länger leben.‹ Dann fing sie hysterisch an zu schreien, bis die SS sie abholte und umbrachte.«
Helena wurde bald klar, daß sie eine Arbeit in einem weniger anstrengenden Kommando finden mußte, wenn sie überleben wollte. Sie kannte eine Slowakin, die in »Kanada« arbeitete und ihr schließlich folgenden Vorschlag machte: Sie solle das weiße Kopftuch und das gestreifte Kleid einer gerade verstorbenen Sortiererin anziehen und sich am nächsten Morgen mit ihnen in die Sortierbaracke schmuggeln. Genau das tat Helena auch. Doch die Anweiserin kam ihr auf die Schliche und teilte ihr mit, daß sie am nächsten Tag in die Strafkompanie versetzt würde. Helena wußte, daß dies einem Todesurteil gleichkam. »Aber es war mir egal, denn ich dachte: ›Na, wenigstens muß ich heute nicht im Freien arbeiten.‹«
Wie es der Zufall wollte, fiel Helenas erster (und wie sie glaubte auch letzter) Arbeitstag in »Kanada« auf den Geburtstag eines der SS-Männer, die die Arbeit in der Sortierbaracke beaufsichtigten: Franz Wunsch. Helena erzählt: »In der Mittagspause fragte die Anweiserin uns, wer ein Lied singen oder ein Gedicht aufsagen könnte, weil es der Geburtstag des SS-Manns wäre. Es gab da ein Mädchen aus Griechenland namens Olga, und die sagte, sie könnte tanzen, und so tanzte sie auf den großen Tischen, auf denen wir die Kleider zusammenlegten. Ich hatte eine sehr schöne Stimme. Deshalb fragte die Anweiserin mich: ›Stimmt es, daß du deutsche Lieder singen kannst?‹ ›Nein‹, sagte ich, weil ich auf keinen Fall dort singen wollte. Aber sie zwangen mich dazu. Also sang ich mit gesenktem Kopf für Wunsch – ich wollte seine Uniform nicht sehen. Und
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