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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Rees
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mir liefen die Tränen übers Gesicht. Als ich fertig war, hörte ich ihn auf deutsch sagen: ›Bitte‹. Er bat mich leise, noch einmal zu singen … Und die Mädchen meinten: ›Sing doch. Vielleicht darfst du dann hierbleiben.‹ Also sang ich das Lied noch mal von vorn, ein deutsches Lied, das ich [in der Schule] gelernt hatte. So bin ich ihm aufgefallen, und in diesem Moment hat er sich wohl in mich verliebt. Das hat mich gerettet – das Singen.«
    Wunsch teilte der Anweiserin mit, daß das Mädchen, das für ihn gesungen hatte, in Zukunft in »Kanada« arbeiten würde, und rettete Helena damit das Leben. So blieb ihr die Strafkompanie erspart, und sie gehörte bald zum festen Personal »Kanadas«. Während Franz Wunsch ihr seit ihrer ersten Begegnung zugetan war, »verabscheute« Helena ihn anfangs. Sie hatte gehört, daß er ein brutaler Mensch sei; unter den Insassen kursierte das Gerücht, daß er einen Häftling beim Schmuggeln erwischt und umgebracht hätte. Doch im Laufe der folgenden Tage und Wochen erlebte sie, daß er ihr gegenüber gleichbleibend freundlich war. Als er in Urlaub ging, schickte er ihr Schachteln mit Keksen, die ihr ein Pipel – einer der Jungen, die für die Kapos arbeiteten – heimlich überbrachte. Nach seiner Rückkehr nahm sein Liebeswerben immer gewagtere Züge an; er schrieb Helena kleine Botschaften: »Als er in die Baracke kam, in der ich arbeitete, ging er an mir vorbei und steckte mir einen Zettel zu. Ich mußte ihn natürlich sofort vernichten, aber ich las noch die Worte: ›Liebste, ich habe mich in Dich verliebt.‹ Ich war entsetzt. Ich dachte, ich wäre lieber tot, als mich mit einem SS-Mann einzulassen.«
    Wunsch, der in »Kanada« ein eigenes Büro hatte, suchte verzweifelt nach Vorwänden, um mit Helena allein zu sein. Einmal verlangte er von ihr, ihm die Nägel zu maniküren. »Wir waren allein in seinem Büro«, erzählt Helena, »und da sagte er zu mir: ›Mach mir die Nägel, damit ich dich ein wenig anschauen kann.‹ Und ich antwortete: ›Auf keinen Fall. Ich habe gehört, daß Sie jemanden getötet haben, einen jungen Mann, am Zaun.‹ Er bestritt das immer … Und dann sagte ich: ›Rufen Sie mich nicht mehr in dieses Zimmer … keine Maniküre oder sonstwas. Ich mache keine Maniküren.‹ Dann drehte ich mich um und sagte: ›Ich gehe jetzt, ich kann Sie nicht mehr länger ansehen.‹ Da verwandelte er sich von einem Moment zum nächsten in einen typischen SS-Mann und brüllte: ›Wenn du durch diese Tür gehst, wirst du’s nicht überleben!‹ Dann zog er seine Pistole und bedrohte mich damit. Er liebte mich, aber seine Ehre, sein Stolz war verletzt. »Du willst also diesen Raum ohne meine Erlaubnis verlassen?› Und ich rief: ›Na los, schießen Sie doch. Erschießen Sie mich! Lieber sterbe ich, als daß ich diese Komödie länger mitspiele.‹ Natürlich hat er mich nicht erschossen, und ich bin hinausgegangen.«
    Aber im Laufe der Zeit erkannte Helena, daß sie, so unglaublich ihr das anfangs auch erschienen war, auf Franz Wunsch bauen konnte. Das Wissen, daß er sie liebte, gab ihr ein »Gefühl der Sicherheit. Ich dachte: ›Dieser Mensch wird es nicht zulassen, daß mir irgend etwas passiert.‹« Dieses Gefühl wurde zur Gewißheit, als Helena eines Tages nach der Arbeit durch eine andere Slowakin erfuhr, daß ihre Schwester Rózinka und ihre beiden kleinen Kinder im Lager eingetroffen waren und zum Krematorium gebracht wurden. Als Helena dies hörte, verließ sie trotz der Ausgangssperre Hals über Kopf ihre Wohnbaracke in Birkenau und rannte zum nahe gelegenen Krematorium. Franz Wunsch, der über den Vorfall sofort informiert worden war, lief Helena nach und holte sie ein. Er rief den anderen SS-Männern zu, daß sie eine seiner »besten Arbeiterinnen« sei, riß Helena zu Boden und begann auf sie einzuschlagen. Er mußte sie wegen ihres Verstoßes gegen die Ausgangssperre bestrafen, sonst hätten die SS-Leute Verdacht geschöpft. Da er bereits wußte, daß Helena wegen ihrer Schwester zum Krematorium gelaufen war, raunte er ihr zu: »Schnell, sag mir den Namen deiner Schwester, bevor es zu spät ist!« Helena sagte ihm, daß sie Rózinka heiße und zwei kleine Kinder bei sich habe. »Kinder überleben hier nicht«, murmelte Wunsch und rannte ins Krematorium.
    Dort fand er Rózinka und konnte sie unter dem Vorwand, daß sie eine seiner Arbeiterinnen sei, noch rechtzeitig hinauszerren. Doch ihre Kinder kamen in der Gaskammer um. Wunsch

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