Auschwitz
auf. Und als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, konnten wir hinter den Gardinen Gesichter von Frauen erkennen. Aber sie durften nicht zu nah an die Fenster gehen, und wir durften eigentlich nicht hinschauen.«
Ein paar Tage später wurde das »Freudenhaus« offiziell eröffnet. Und Paczyński war dabei: »Da ich ein langjähriger Häftling war und mein Kapo zwei Gutscheine [für das Bordell] bekommen hatte, schenkte er mir einen. Also machte ich mich fein und ging hin.« Wie Paczyński bei seiner Ankunft jedoch feststellen mußte, hatte sich jeder potentielle »Kunde« erst einmal von einem SS-Arzt untersuchen zu lassen, was mit militärischer Routine vonstatten ging. Hatte man diese peinlich genaue Untersuchung erfolgreich hinter sich gebracht, bekam man einen Stempel auf die Hand gedrückt und wurde in einen weiteren Raum im Erdgeschoß geschickt. Dort nahmen die Männer an einer Art Verlosung teil, die darüber entschied, in welcher Reihenfolge sie in welches Zimmer (und damit zu welcher Prostituierten) im ersten Stock gehen durften. Paczyński erinnert sich, daß er »der zweite für Zimmer Nr. 9« war. Alle 15 Minuten ertönte ein Klingelsignal, das den »Schichtwechsel« ankündigte. Paczyński, der es kaum erwarten konnte, endlich an die Reihe zu kommen, stürmte beim ersten Klingelzeichen in Zimmer Nr. 9, wo er seinen Vorgänger dabei überraschte, wie er sich hektisch die Hose anzog. Zu seiner Enttäuschung »konnte« Paczyński dann aber nicht, doch er nutzte die ihm zugestandene Zeit, um mit einem »schicken, gutaussehenden Mädchen« auf dem Bett zu sitzen und zu plaudern.
Der Lagerhäftling Ryszard Dacko 24 kam ebenfalls in den Genuß der »Freuden« des Bordells. 1943 war er 25 Jahre alt und arbeitete im Stammlager als Feuerwehrmann, eine begehrte Tätigkeit, da Feuerwehrleute sich relativ frei in Auschwitz bewegen konnten und es somit leicht hatten, Schmuggelware zu »organisieren«. Außerdem schätzten die Deutschen sie, was sich Dacko damit erklärte, daß Feuerwehrleute in Deutschland »geachtet« waren. Folglich erhielten die Mitglieder der Feuerwehr von Auschwitz ein Kontingent an Gutscheinen für das Lagerbordell, das Dacko schließlich auch besuchte. Er war bei einem Mädchen namens Alinka: »Ich wollte ihr so nah wie möglich sein, sie umarmen. Ich war seit dreieinhalb Jahren inhaftiert. Ich hatte seit dreieinhalb Jahren keine Frau mehr gehabt.« Laut Dacko war Alinka ein »sehr nettes Mädchen, die keine falsche Scham kannte. Sie gab einem, was man wollte«.
Die Zimmer, in denen die Mädchen ihrer Arbeit nachgingen, gibt es noch heute; sie dienen mittlerweile als Archivräume. Das Verblüffendste an ihnen sind die mit Sichtfenstern ausgestatteten Türen. »Sie [die SS] wollten alles unter Kontrolle behalten«, erklärt Ryszard Dacko. »Falls ein Häftling ein Mädchen würgte oder so. Also schauten sie einfach durch die Gucklöcher. Natürlich war es auch männlicher Voyeurismus. Die meisten Männer sehen andern gern beim Geschlechtsverkehr zu.« Die visuelle Überwachung der Häftlinge beim Geschlechtsverkehr sollte außerdem sicherstellen, daß es zu keinen »perversen« sexuellen Handlungen kam (laut Jósef Paczyński durften die Häftlinge nur in der Missionarsstellung Verkehr haben) und daß sich keine persönlichen Beziehungen zwischen den Prostituierten und ihren Kunden entwickelten (in den Bordellen der anderen Konzentrationslager war es den Häftlingen sogar verboten, mit den Frauen zu sprechen).
Doch in den frühen Morgenstunden überwachte die SS das Bordell nicht mehr so streng, und genau dann gab es so manchen Ärger. Dacko erzählt, daß es einem Mitgefangenen gelungen war, den Schlüssel des Bordells nachzumachen, so daß er nachts seine Favoritin besuchen konnte. Das Problem war nur, daß andere Häftlinge die gleiche Idee hatten, und so kam es im Flur des erstens Stocks immer wieder zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.
Die Vorstellung, daß sich Lagerhäftlinge in einem von der SS bereitgestellten Bordell vergnügen, mag zunächst aberwitzig erscheinen. Doch dieses Phänomen veranschaulicht die ausgeklügelte Gefangenenhierarchie, die sich mittlerweile im Lager herausgebildet hatte. Wie Jósef Paczyński erläutert, wäre es undenkbar gewesen, daß Juden das Bordell besuchten. Sie gehörten einer niederen Klasse von Gefangenen an und hatten mit einer weit schlechteren Behandlung zu rechnen als ihre polnischen oder deutschen nichtjüdischen
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