Auschwitz
Liebesgeschichte zwischen Helena und Franz Wunsch ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es gibt so viele Geschichten über Auschwitz, die von Mord, Diebstahl und Verrat erzählen – von der ganzen Palette menschlicher Verrohung –, und so wenig über die Liebe. Die Tatsache, daß sich unter diesen Bedingungen so etwas wie Liebe entwickeln konnte, noch dazu zwischen einer Jüdin und einem SS-Aufseher, ist mehr als erstaunlich. Würden diese Ereignisse in einem Roman beschrieben, man würde sie schlicht für unglaubwürdig halten.
Allerdings spielten äußere Faktoren in dieser Liebesgeschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wunsch würde sich kaum in Helena verliebt haben, wenn sie noch im Abrißkommando gearbeitet hätte. Weder hätte sich die Gelegenheit für eine persönliche Begegnung geboten, noch hätte Wunsch die Möglichkeit gehabt, Helena zu schützen. Und natürlich wäre es nie dazu gekommen, daß Helena Franz Wunsch mit ihrem Gesang bezaubert hätte. In »Kanada« dagegen kamen die SS-Männer nicht nur mit jüdischen Frauen in Berührung, sondern es ergab sich auch die Gelegenheit, eine Bekanntschaft zu vertiefen. Es überrascht nicht, daß in Auschwitz proportional gesehen mehr Frauen aufgrund ihrer Arbeit in »Kanada« überlebten als irgendwo sonst.
Die Beziehung zwischen Franz Wunsch und Helena war natürlich auch ein Indiz dafür, wie weit sich die Verhältnisse in Auschwitz von Himmlers Vorstellungen entfernt hatten. Er hätte in Wunschs Verhalten ein weiteres Beispiel für die »mangelnde Disziplin« im Lager gesehen. Im Herbst 1943 wurde SS-Obersturmbannführer Konrad Morgen nach Auschwitz entsandt, um der Lagerführung »auf die Finger zu klopfen«. Morgens Inspektionsbesuch sollte schwerwiegende Folgen haben, denn er war kein gewöhnlicher SS-Führer, sondern ein zum Reichskriminalpolizeiamt abkommandierter SS-Richter. Seine Mission war Teil einer konzertierten Aktion höherer SS-Dienststellen mit dem Ziel, die Korruption in den Lagern zu untersuchen.
Oskar Gröning und seine Kameraden waren sich über die Gründe für Morgens Besuch durchaus im klaren: »Ich glaube, die Korruption hatte dermaßen überhandgenommen, daß sie sich sagten: ›Das darf so nicht weitergehen. Wir müssen dem Einhalt gebieten.‹« Dennoch wurden sie von der Durchsuchung, die Morgen in ihren Baracken in Birkenau durchführte, völlig überrumpelt. Als Gröning von einer Dienstreise nach Berlin zurückkehrte, mußte er feststellen, daß zwei seiner Kameraden im Gefängnis saßen: »Man hatte in dem Spind des einen Füllfederhalter und eine Büchse Sardinen gefunden. Was sie in dem Spind des anderen fanden, weiß ich nicht, aber er hat sich später erhängt. Und mein Spind war versiegelt.«
Morgen und seine Mitarbeiter hatten Grönings Spind noch nicht geöffnet, da er nur im Beisein seines Besitzers durchsucht werden sollte. Das sei seine Rettung gewesen, bekannte Gröning später. Es war unmöglich, die versiegelte Spindtür zu öffnen, ohne daß es bemerkt wurde, doch Gröning und seine Kameraden waren gerissener, als Morgen ahnte: »Wir zogen den Spind vor und nahmen die Rückwand ab – was bei Sperrholz kein Problem ist – und holten Seife und Zahnpasta heraus, die dort nichts zu suchen hatten. Dann setzten wir die Rückwand wieder ein und fixierten sie mit Nägeln. Anschließend ging ich zur Gestapo und beschwerte mich: ›Hören Sie mal, was soll denn das? Ich kann nicht an meinen Spind!‹ ›Das wissen wir‹, bekam ich zur Antwort. ›Wir müssen ihn aber durchsuchen.‹ Sie kamen mit, entfernten die drei Siegel und öffneten den Spind. Als sie nichts fanden, klopften mir auf die Schulter und sagten: ›Alles klar bei Ihnen. Nichts für ungut.‹«
Gröning hatte Glück gehabt. Allerdings fand Morgen bei seinen Kameraden genügend Beweise, die keinen Zweifel daran ließen, daß in Auschwitz Diebstahl und Korruption weit verbreitet waren. Er sagte später aus: »[Ich] nahm eine Durchsuchung vor. Und wie ich mir es gedacht hatte, kam dann da einiges zum Vorschein: goldene Ringe, Münzen, Ketten, Kettchen, Perlen, so ziemlich sämtliche Währungen der Welt. Bei dem einen wenig »Souvenirs«, wie der Betreffende sagte, bei dem anderen ein kleines Vermögen. Was ich aber nicht erwartet hatte, war, daß aus einem der zwei Spinde mir die Geschlechtsteile frisch geschlachteter Bullen entgegenfielen. Ich war zunächst völlig entgeistert und konnte mir also den Verwendungszweck nicht vorstellen.
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