Auserkoren
bist.«
Ich schmunzelte in der Dunkelheit. »Du solltest mir nicht so nachschauen«, tadelte ich ihn.
Er streckte seine langen Beine aus und lehnte den Kopf gegen meinen.
»Sag mir«, bat ich, »sag mir, wann schaust du noch hinter mir her?«
»Immer«, antwortete Joshua. Ich spürte seinen warmen Atem in der kalten Nachtluft. Ich hörte, dass er lächelte.
»Sag mir, wann.«
»Gut. Lass mich nachdenken.«
Ich wartete und wünschte, der Augenblick möge nie vergehen. Ich wünschte, wir könnten auch in aller Offenheit beieinander sein. Am helllichten Tag. Vor den Augen der anderen.
»Ich sehe dich, wenn du in die Kirche gehst«, sagte Joshua. »Ich sehe, wie blond dein Haar ist. Aber bei einem bestimmten Licht sieht es aus, als wären da auch rötliche Strähnen. Ich merke, wie du riechst, wenn wir uns nahe sind. Und ich sehe, wie du gehst, wenn wir aus der Kirche kommen und deine Familie vor uns den Tempel verlässt. Ich sehe, wie du bei deiner Familie bist und wie du deine kleine Schwester trägst.« Er holte tief Luft. »Ich habe dich gesehen, wie du auf eurer Schwelle gestanden und in die Wüste hinausgeblickt hast. Ich habe dich gesehen, wie du zum Zaun gegangen bist und dann noch etwas weiter. Das machst du schon jahrelang so.«
»Du beobachtest mich schon jahrelang?« Ich konnte es nicht glauben. Ich freute mich so bei dem Gedanken, dass Joshua schon lange einen Blick auf mich geworfen hatte, dass ich gar nicht aufhören konnte zu lächeln.
»Schon seit ein paar Jahren, Kyra«, bestätigte er. »Ich kann einfach nicht anders.«
Ich schlang die Arme um ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
»Kyra«, sagte er leise, »Kyra, ich möchte dich erwählen.«
»Wie?« Meine Stimme klang schrill, viel zu laut für das, was wir taten. Laut genug, um entdeckt zu werden.
»Ich bin sechzehn«, entgegnete er mir. »Bald bin ich alt genug, um jemanden zu erwählen.«
Ich ließ ihn los. »Drei Jahre musst du schon noch warten«, sagte ich.
»Ich bin fast siebzehn«, widersprach Joshua. »Und zwei Jahre sind schnell vorbei. Ich arbeite mit meinem Vater, spare Geld. Für ein Heim für uns beide.« Er machte eine Pause und nahm meine Hand. »Darf ich dich erwählen?«
In diesem Augenblick sah ich im Geiste eine Reihe alter Männer vor mir. Mit weit aufgerissenen Mündern ließen sie ihre Blicke wie Hände über uns junge, unverheiratete Mädchen gleiten.
»Würdest du mich erwählen, Kyra?«, fragte Joshua. Sein Gesicht war ganz dicht an meinem, seine Lippen berührten meine Lippen.
»Ja«, sagte ich. »Ja.«
Jetzt hält mich Joshua an den Schultern. »Was soll das heißen?«, fragt er.
Ich sage ihm alles, alles.
»Dein Onkel?«, fragt er.
Ich nicke.
»Das ist schlecht«, sagt er nach einer Weile. »Er ist ein Apostel.«
Wir stehen schweigend da, ich halte mich an Joshua fest, wir beide wiegen uns hin und her.
»Ich habe noch vier Sonntage Zeit«, sage ich. »Vier.«
Joshua nickt. »Ich lasse mir etwas einfallen«, sagt er.
Und ich glaube ihm.
Seit der Prophet mir seine Pläne angekündigt hat, habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich vielleicht, vielleicht eine Chance habe.
Am Morgen wache ich auf, weil Mutter Sarah sich übergeben muss. Die Wände in dem Wohnwagen sind dünn, und ich höre sie, während Laura neben mir liegt und schnarcht.
Ich bin spät zurückgekommen, niemand war mehr wach. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Vater. »Ich werde mit ihnen reden, Kyra«, stand darauf.
Jetzt kümmern sich also zwei Menschen um mich. Zwei Menschen, die ich liebe.
Ich krieche aus dem Bett und gehe zu Mutter. Sie ist im Bad, alles riecht hier nach Erbrochenem.
»Mutter?« Ich strecke die Hand nach ihr aus. Ihr Haar, das zu einem langen Zopf geflochten ist, liegt wie eine Schlange auf dem Fußboden. An ihrem Rücken kann ich jeden einzelnen Knochen spüren.
»Geh wieder ins Bett, Kleine.« Ihre Stimme hallt in der Kloschüssel wider, sie klingt hohl. Mutter blickt mich an. Sie ist blass, ihre Augen sind feucht. Erschöpft lässt sie den Kopf auf den Sitz sinken.
»Lass mich dir helfen.« Mein Magen krampft sich zusammen. Ich habe sie schon oft in diesem Zustand gesehen - es geht ihr jedes Mal so, wenn sie schwanger ist -, aber immer wieder jagt es mir Angst ein.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, antwortet Mutter.
»Bist du fertig?«
Die ganzen sechs Monate, seit sie schwanger ist, und das ist ihre achte Schwangerschaft, geht es ihr schlecht. So schlecht, das
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